Die Motivation der Straßenumbenennungen kann nicht hinreichend verstanden werden, ohne die dafür notwendigen vorausgehenden Begleitumstände zu kennen, die ebenso einen dramatischen Eingriff ins Pariser Alltagsleben darstellten. Als eine der ersten Maßnahmen beschlagnahmte die Revolution die Wohnungen der Emigranten und löschte die Mönchsorden aus, deren Güter verstaatlicht wurden, immerhin insgesamt 4400 Objekte, darunter 9 Abteien, 108 Klöster, 69 Kirchen und 39 Kapellen. Entweder wurden sie aufgeteilt oder aber zerstört, und an ihrer Stelle neue Straßen und Plätze angelegt. Auf diesem Wege entstanden die Place de l’Hôtel-de-Ville, Place de la Bastille, Place du Châtelet und Place du Caroussel. Auch die Rue de Rivoli zwischen der Place de la Concorde und der Place du Caroussel wurde so realisiert, wie auch viele weitere Straßen.
Noch 1789 wurde Paris durch die Generalstände in 60 Distrikte eingeteilt, wobei fast alle Distrikte religiöse Namen erhielten und jeder von ihnen Stammsitz einer Kirche oder einem Äquivalent war. Diese Einteilung war jedoch aufgrund der aufkeimenden Religionsfeindlichkeit nicht zufrieden stellend und wurde daher schon 1790 durch eine Einteilung in 48 Sektionen ersetzt, wobei auch die Namen neu vergeben wurden. Diese waren großteils nüchtern ortsbezogen gewählt, es kamen keine kirchlichen oder royalistischen Namen mehr vor. Manche Sektionen wurden im Fortgang der Revolution erneut umbenannt. So erschien 1793 den Revolutionären die Bezeichnung „Louvre“ doch noch zu sehr an das Ancien Régime zu erinnern und wurde durch ein schlichtes „Museum“ ersetzt. Zur gleichen Zeit wurden aus „Ponceau“ die „Amis de la Patrie“, „Roi-de-Sicile“ zu „Droits de l’Homme“, „Notre-Dame“ zu „Cité“ und „Grange-Batelière“ zu „Mirabeau“.
1795 wiederum wurden aus den 48 Sektionen 48 Quartiers, die in 12 Arrondissements zusammengefasst wurden. 1860 wurde schließlich die heutige Einteilung mit 20 Arrondissements zu je 4 Quartiers festgelegt, die an späterer Stelle noch näher erörtert werden soll.
Noch einige Randnotizen zu den baulichen Neuerungen im Stadtbild: Ab dem Jahr 1797 wurden die oft mit Müll, Kot und ähnlichem verstopften Rinnsteine von der Straßenmitte an den Straßenrand verlegt. Diese Maßnahme, so sehr sie sicherlich von den Parisern begrüßt wurde, beraubte den schadensfrohen Zeitgenossen jedoch um ein ganz besonders Schauspiel, das uns Louis Sébastien Mercier genüsslich schildert: Solange die Gosse in der Mitte der Straße war, kam es vor, dass ein breiter, schmutziger Bach die Straße teilte. Wollte ein Fußgänger die Straßenseite wechseln, so eilte ein für einen Liard hilfsbereiter Mitbürger mit einem mobilen Brückchen herbei, über das der Passant dann nervös auf die andere Straßenhälfte balancierte.
Auch setzten sich langsam Trottoirs für Fußgänger durch, deren Fehlen Mercier bereits angeprangert hatte. Als erste Straße mit Gehsteig war bereits 1779 die rue de l’Odéon geschaffen worden, der 1784 die rue Louvois und 1786 die rue Le Peletier folgten.
Zur Verbesserung der hygienischen Zustände wurde alles Schlachtwesen aus der Stadt heraus in die Abattoirs verlegt. Auch hier vermittelt uns Mercier ein anschauliches Bild aus den katastrophalen mittelalterlichen Verhältnissen noch im ausgehenden Ancien Régime: Er nennt die Rue du Pied-de-Boeuf den „stinkendsten Ort der ganzen Stadt“ mit seinen Schlachtereien. Das Vieh wurde öffentlich geschlachtet, das Blut floss in den Straßen, außerdem bestand stets latente Gefahr von flüchtenden Tieren.
An diesem Ort stand zudem nicht nur das in der Bevölkerung gefürchtete Grand-Châtelet, sondern war auch Stätte eines schmutzigen Marktes mit dunklen Gewölben, außerdem noch der Sammelplatz für alle Leichen aus der Seine und dem Pariser Umland. Das alles wurde ergänzt durch ein Gefängnis, eine Fleischerei und ein Schlachthaus, die am Anfang des Pont-au-Change liegen, auf damals noch Brückenhäuser standen, die Mercier furchtbar hässlich findet. Außerdem entsetzt er sich über dieses Viertel als Zentrum der Prostituierten, welche ebenfalls ausnehmend derb und unansehnlich waren und vor allem von Metzgerburschen frequentiert wurden.
Die kleinen Kirchhöfe um die Gotteshäusern herum, längst überfüllt und zu Brutstätten unzähliger Krankheitserreger geworden, wurden geschlossen und dafür im Jahr 1804 die Totenstadt Père-Lachaise angelegt, benannt nach dem Beichtvater Louis XIV, dessen Landsitz hier gelegen hatte. Mercier unterlässt es auch hier nicht, den pestilenzartigen Gestank der Friedhöfe mitten im Stadtgebiet zu beklagen, da die Leichen nur wenig tief bestattet wurden und durch Erosion oder Überschwemmungen ihre Körper immer wieder freigelegt wurden.
Angesichts dieser Zustände verwundert es übrigens nicht, dass Mercier „Lutetia“, den ersten Namen von Paris, wenig charmant mit „Dreckstadt“ übersetzt, wobei er sich auf das lateinische Wort „lutum“ für Kot oder Lehm bezieht. Diese Herleitung mag zwar emotional verständlich sein, sachlich fundiert ist sie nicht; in der Forschung ist die wahre Herkunft des Namens unbekannt.
Abseits von Paris
Die Ereignisse der Französischen Revolution waren kein Pariser Phänomen und auch nicht auf Paris beschränkt, sondern hinterließen auch in der Provinz ihre Spuren. Während sich manche Städten aber nur wenig von der Pariser Euphorie anstecken ließen und keine radikalen Änderungen vorgenommen wurden, so sind die Auswirkungen in Reims doch eine Erwähnung wert:
Bereits fünf Tage nach dem Sturm auf die Tuilerien in Paris verfügte die Reimser Stadtverwaltung die Zerstörung eines ihrer bedeutendsten Wahrzeichen, ein von Pigalle gefertigtes Standbild Louis XV auf der Place Royale. Ersetzt wurde es durch eine revolutionäre Freiheitsstatue, die eigentlich eine rasch aus einem nahen Kloster herbeigeschaffte Muttergottesfigur war, die eiligst auf revolutionär getrimmt wurde. Anschließend wurde die Place Royale in Place de la Liberté umbenannt, 1794 in Place du Peuple und später unter Napoléon in Place Impériale, um in der Restauration wiederum zu ihrem alten Namen Place Royale zurückzukehren.
rue_novilot - 24. Aug, 18:47
Wenden wir uns nun den konkreten Änderungen in den Pariser Straßennamen zu. Schon im Juni 1790 wurde in der Zeitung „Moniteur“, dem Sprachrohr der Revolutionäre, ein Aufruf publiziert, Pariser Straßen mit den Namen großer Männer zu schmücken, um die Stadtbürger auf den Pfad der Tugend zu lenken. Straßennamen sollten sozusagen als Literatur der Analphabeten verwendet werden.
Die Municipalité de Paris benannte auf Betreiben des Marquis de Villette Anfang Mai 1791 die rue Plâtrière in rue Jean-Jacques Rousseau und den Quai des Théatins in Quai Voltaire um. Oft brachten Revolutionäre jedoch nicht die Geduld auf, darauf zu warten bis die Stadtverwaltung tätig wurde, sondern nahmen die Aufgabe selbst in die Hand. Bereits im April 1791 hatte Villette eigenmächtig kurz nach dem Tod Mirabeaus das Straßenschild der rue Chaussée d’Antin durch ein Schild mit der Aufschrift „rue Mirabeau“ ersetzt, dessen Sterbehaus in dieser Straße lag. Damit stellte er die Stadtverwaltung vor vollendete Tatsachen.
Dieses Vorgehen war symbolisch für die Revolutionszeit: Einzelne oder kleinere Gruppen mit starkem politischem Sendungsbewusstsein setzten öffentlichkeitswirksame Aktionen, mit denen die Stadtverwaltung und später der Konvent beeinflusst werden sollten. Da diese Gruppen jedoch durchaus unterschiedliche Interessen unter dem Dach der Revolution verfolgten, waren dies Aktionen nur selten koordiniert, und das Chaos im Pariser Straßensystem blieb nicht aus.
Bisher beschränkten sich die Handlungen auf einzelne Straßen und konkrete Anlassfälle, die meist mit dem jeweiligen Ort in direkter Verbindung standen. So wurde etwa der eben erwähnte Quai Voltaire anlässlich des Todes Voltaires an jenem Ort entsprechend umbenannt.
Doch schon bald überschlugen sich Revolutionäre darin, sich mit immer größeren Vorhaben zu übertrumpfen. Philippe Antoine Grouvelle drängte im Herbst 1792 erstmals darauf, sämtliche Königs- und Heiligennamen vollständig aus dem Straßenverzeichnis zu tilgen. In Colletets Straßenverzeichnis von 1785 finden sich alleine 95 Heiligennamen. Als Grund für sein Begehren führte Grouvelle aus, die Namen würden ihm so großen Ekel bereiten und er müsste sich in Gegenwart Fremder furchtbar für sie schämen. In triefend nationalistischem Französisch klingt das so unvergleichlich, dass ich den Absatz nicht verschweigen möchte:
„Les saints ont fait autant de mal que les princes. Je m’ennuie également de les voir partout désigner les avenues de la ville. Si je conduis un étranger, et qu’il me demande le noms des rues, c’est pour moi une insupportable nausée d’avoir toujours à lui nommer quelqu’en des imbéciles ou des hypocrites de la légende.“
Auch der Citoyen Jault sprach von „gotischen Prägemarken der Jahrhunderte der Irrtümer und des Fanatismus“, die es zu zerschlagen gelte, indem man den Straßen statt Heiligennamen republikanische Namen geben sollte.
Der Citoyen Chamouleau brachte 1793 dem Conseil Municipal sein Anliegen vor, alle Straßen aller Gemeinden der ganzen Republik in Begriffe der Tugendhaftigkeit umzubenennen. Da die wenigen vorhandenen Tugenden naturgemäß nicht auch nur ansatzweise für die vorhandene Zahl der Straßen ausreichten, sollten die verbleibenden Straßen die Namen „irgendwelcher“ („…quelques grands hommes…“) großer Menschen erhalten. Damit, so seine Hoffnung, würde das Volk, da es fortan stets die in Straßennamen gekleideten großartigen Sinnbilder der Revolution im Alltag verwenden würde, deren Tugenden und Moral bald selbst in ihrem Herzen tragen.
Ein besonderes Gefühl für publicityträchtige Aktionen entwickelte der Unternehmer Pierre-Francois Palloy. Nur drei Tage nach der Ermordung Marats schickte Palloy zwölf angeblich aus der Bastille stammende Steine, in die er den Schriftzug „rue Marat“ eingravieren hatte lassen, an die Pariser Sektion des Théâtre-Francais mit „dem dringenden Wunsch“ um Umtaufung der rue des Cordeliers in rue Marat.
Die so aus dem Ruder laufende Diskussion führte Anfang 1794 zur Schaffung eines Gremiums mit dem schönen Namen „Rapport au Conseil général de la Commune“, welches die Umbenennungen der Straßennamen koordinieren sollte, ihr Vorsitzender wurde der bereits bekannte Henri Grégoire. Er beschäftigte sich als Erster ernsthaft mit den Problemen der bisherigen Namenspolitik in großen Städten wie auch Paris. Er war zwar ein Kind der Revolution, jedoch ging er dennoch systematisch und mit realistischen Erwartungen an seine Aufgabe heran. Er wusste nicht nur um die Bedeutung der ausgewählten Straßennamen, sondern kannte auch ihre historische Entwicklung. Auch er sah das Problem, dass manche Namen an mehrere Straßen vergeben wurden und andererseits eine Straße verschiedene Namen trug.
Grégoire studierte die Namensysteme altertümlicher Städte wie auch das moderne System im damals noch jungen Philadelphia, in dem die Straßen einfach durchnummeriert wurden. Für ihn kam dies jedoch nicht infrage, er wollte für Paris etwas komplett Neues. Er formulierte zwei Grundregeln für künftige Namensgebungen, die noch bis heute Gültigkeit haben: Die Namen sollten kurz und wenn möglich klangvoll sein und sie sollten dem Passanten eine positive Botschaft vermitteln. Gemäß Grégoire sei es am wichtigsten, dass die Namensgebung, einfach, verständig und systematisch erfolgen würde. Wiederholte Umbenennungen wären dagegen kontraproduktiv.
Schließlich legte er zwei Systeme für Paris vor: Einerseits ein geographisches Namensverzeichnis und andererseits eine Nomenklatur bestehend aus Bezeichnungen aus der Landwirtschaft, des Handels, der Künste und der Berufe – und besonders aller Tugenden der Revolution.
Die Vorschläge Grégoires wurden jedoch nicht befolgt, die Stadtverwaltung verfügte weiterhin weitgehend planlos auf Zuruf von außen neue Straßennamen ohne irgendein System. Als die Situation immer verwirrender wurde, wurde zur Symptombekämpfung im Jahr 1794 der „Almanach indicatif des Rues de Paris suivant leurs nouvelles dénominations“ herausgegeben, anstatt das Problem bei der Wurzel zu packen, obwohl die fertigen Expertisen Grégoires nach wie vor vorlagen.
In der Praxis stieß das radikale Umerziehungsprogramm durch neue Straßennamen all den hehren Wünschen zum Trotz sowieso rasch an seine Grenzen. Die Pariser integrierten einfach die neuen Namen in ihren gewohnten Sprachgebrauch, ohne die traditionellen Bezeichnungen jedoch zu verabschieden. So entstanden auch merkwürdige Konstruktionen: Die vormalige rue Sainte-Anne wurde von den Revolutionären zur rue Helvétius erklärt, die Kutscher von Paris riefen sie jedoch bald als rue Saint-Helvétius aus, was freilich die eigentliche Intention völlig konterkarierte.
Die Tilgung royalistischer Symbole beschränkte sich nicht auf Straßennamen allein, auch die Plünderung der Königsgräber in Saint-Denis ist durchaus als symbolische Ausradierung der Herrscherdynastie zu verstehen. Die Revolutionäre schienen sich überhaupt mit großer Hingabe allem vormals Königlichen zu widmen. Noch im Jahr 1793 taten sich für kreative Revolutionäre neue Ziele auf. Nach einem Aufsehen erregenden Marsch beginnend im Pariser Zentrum verspeisten Sansculotten im Garten des Schlosses von Chantilly die dort in den Teichen schwimmenden Goldfische, die ihnen als Metaphern aristokratischer Verschwendung galten. Die buchstäbliche Verzehrung der Vergangenheit erfuhr auch seinen Niederschlag in der Umbenennung von Früchten und Lebensmitteln, so wurden die poires de bon-chrétien zu den poires de bon républicain. Es drängen sich merkwürdige Parallelen auf, wenn man an die hektische Stilisierung der French Fries zu Freedom Fries in den USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001 denkt.
Auch der deutsche Reisende Johann Friedrich Reichard, der sich in seinen Notizen bereits ausnehmend über seine Orientierungslosigkeit in Paris beklagt, bemerkt abseits des Straßennamenchaos weitere Veränderungen:
„Daß meine jetzige Wohnung mit vielen andern ihresgleichen ‚Maison’ und nicht ‚Hôtel’ heißt, schreibt sich noch von der Schreckenszeit her. Damals mußte alles entfernt werden, was nur einigermaßen an die alte königliche oder aristokratische Zeit erinnerte. Aus allen Schildern mußte denn auch das Wort ‚Hôtel’ ausgestrichen oder ausgeschnitten und dafür ‚Maison’ gesetzt werden. Viele Häuser, die in dem guten Rufe blieben, den sie ehedem schon hatten, haben es nicht der Mühe wer geachtet, das ‚Maison’ wieder in ‚Hôtel’ zu verwandeln. Viele haben es getan, und alle neuerrichteten Häuser der Art nennen sich wieder Hôtels.“
Die konzertierte Sprachnormierung durch die Revolution auf vielen Ebenen führte in der Tat einen gewissen Sprachwandel herbei. Viele Schlagwörter der Revolution fanden Eingang in den allgemeinen Wortschatz. Durch die großteils polemische Verwendung wurde den Begriffen eine neue Sinnqualität eingehaucht, mit der sie ihre soziale Verankerung erfuhren. Prominente Wörter dafür sind Liberté, Patriotisme, Aristocrate, Régénération und natürlich Révolution selbst. Es wurden extra eigene Pamphletwörterbücher herausgegeben, in denen die offizielle vom Regime gewünschte Definition verbreitet wurde.
Ein wesentliches Element, um die revolutionäre Botschaft in Köpfen der Bevölkerung zu verankern, waren Straßennamen, bei denen es sich anbot, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Einerseits konnte ein unbeliebter Name des Ancien Régime aus dem öffentlichen Gedächtnis gestrichen werden, andererseits konnte gleichzeitig eine wohlklingende Bezeichnung an der frei gewordenen Stelle platziert werden. Im Zuge dessen wurden beispielsweise die rue de Condé zur rue de l’Egalité, die rue Louis-Le-Grand zur rue des Piques und die rue du Roi-de-Sicile zur rue des Droits de l’Homme.
Um die Bevölkerung jedoch nicht dazu zu nötigen, quasi einen völlig neuen Stadtplan mit ganz neuen Bezeichnungen zu lernen, bestanden die Umbenennungen mitunter auch nur aus der Ausmerzung politisch unkorrekt gewordener Bestandteile im alten Namen. Aus der vormaligen rue du Roi-Doré wurde so die rue Dorée. Aus der wichtigen Hauptachse „rue Saint Martin“ wurde einfach die „rue Martin“. Da dieser Straßenname im Bewusstsein der Bevölkerung tief verwurzelt war, kam ein komplett neuer Name nicht infrage.
Man kann also keinesfalls von einem generellen Umbruch, einer kompletten Neubenennung aller Pariser Straßen sprechen. Es war vielmehr so, dass zunächst nur alle Straßen mit Heiligennamen „säkularisiert“ wurden.
Manche dieser damals neu geschaffenen Straßennamen haben sich bis heute gehalten: rue Helvétius, rue Cérutti, petite rue Chalier, und auch die rue de Marat und die rue de Jean-Jacques Rousseau.
Der Vorschlag Grégoires, die Namen der französischen Departments als Straßennamen in Paris zu verwenden, wurde hingegen ebenso wenig umgesetzt wie jener, die Pariser Straßen als geographisches Spiegelbild der Republik zu benennen. Lediglich die „rue du Mont Blanc“, „rue de Lille“ und „rue de Thionville“ finden sich neu, die beiden letzteren allerdings als Referenz an die beiden Städte für ihren Engagement für die Sache der Revolution.
Während insgesamt nur verhältnismäßig wenige Straßen umbenannt wurden – während der Revolution nur 53 von etwa 900 Straßen insgesamt – so wurden gleich 12 von 26 Pariser Plätzen umgetauft. Das Motiv liegt darin, dass die Plätze als Ort der Repräsentation, Versammlungsort und Treffpunkte genutzt wurden und somit wesentlich wichtiger waren als die meisten Straßen.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es in den ersten Jahren nach der Revolution zu keinem kompletten Umbruch in der Bezeichnung der Pariser Straßennamen gekommen ist. Im Großen und Ganzen blieb das alte Pariser Namensverzeichnis bestehen, lediglich die auffälligsten Relikte des Ancien Régime wurden im ersten Überschwang der Gefühle rasch getilgt. Die neuen Namen sollten zur Volksbildung beitragen, da sie durch ihre Bezeichnungen die Ideale und Tugenden der Revolution propagierten. Eine koordinierte Aktion scheiterte an den zersplitterten Einzelinteressen und der mangelnden Selbstorganisation der Revolutionäre.
rue_novilot - 24. Aug, 18:46
Den Revolutionären muss hingegen grundsätzlich der redliche Vorsatz zugestanden werden, das Vorhaben einer koordinierten Umbenennung des Pariser Straßensystems anfänglich sorgfältig geplant zu haben, freilich unter Berücksichtigung revolutionärer Einflussnahme. So entwarf Henri Grégoire als Vorsitzender des Erziehungsausschusses des Nationalkonvents ein umfassendes Programm zur nationalen Erziehung. Der ehemalige Gemeindepfarrer aus einem kleinen Dorf in Lothringen, der aufgrund seiner Herkunft die Kultur der Landbevölkerung kannte, stellte ein umfangreiches Maßnahmenpaket vor.
Die zentralen Punkte bestanden aus einem forcierten Ausbau der Volksschulen, der Förderung der Nationalfeste und der Etablierung neuer Formen der Volksliteratur durch Almanache, Katechismen und Schulbücher, und der Umbenennung von Straßen und Plätzen im Sinne des revolutionären Geistes. Nicht genug der Änderungen wurde auch der gregorianische Kalender durch den Französischen Revolutionskalender ersetzt.
Die Wirkung politischer Schriftliteratur und Presse war in der noch mehrheitlich analphabetischen französischen Gesellschaft begrenzt. Nach einer Erhebung des Nationalkonvents von 1790 waren immerhin 12 Millionen Franzosen, etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung, unfähig, Französisch zu sprechen und nur 3 Millionen Bürger beherrschten die Sprache in Wort und Schrift halbwegs korrekt. Klarerweise hätte daher eine Instrumentalisierung, die sich ausschließlich auf schriftliche Pamphlete und dergleichen gestützt hätte, nur einen geringen Teil der Einwohner erreicht. Aber eine revolutionäre Namenspolitik als System volkserzieherischer Didaktik, die auf mündlicher Verbreitung basierte, sollte auf die Nation als Einheit lenkend einwirken.
Außerdem bestand der Wunsch, alle Debatten und Beschlüsse der Nationalversammlung jedem Bürger zugänglich zu machen, was eine intensive Übersetzungstätigkeit der papiers in lokale Dialekte und Regionalsprachen wie Korsisch, Bretonisch, Katalanisch und Deutsch zur Folge hatte. Aufgrund großer administrativer Schwierigkeiten wurden diese Vorhaben jedoch nur teilweise umgesetzt, die Revolutionäre fanden bald wichtigere Spielplätze. Im Januar 1794 wurde schließlich Französisch in allen Schulen verbindlich vorgeschrieben, im Juli 1794 wurden die Dialekte und Regionalsprachen vom Nationalkonvent verboten, allerdings auch dies nur kaum durchgesetzt.
Die Vermittlung der Ideale der Revolution auch an die analphabetisierten Bevölkerungsschichten sollte durch mündliche und semi-orale Formen der Informationsübermittlung erreicht werden: Einführung von Nationalfesten, Bildgraphiken (im Sinne eines erzählenden Comics), gemeinsames Singen, kostenlose Theateraufführungen, Schaffung eines patriotischen Liederkanons, Vorlesen von Zeitungen und Geschichten und eben die demonstrative Umbenennung von Straßen und Gemeinden. Ab Ende 1792 wurden Kommissare aufs Land geschickt, um öffentliche Lektüren zu organisieren. Viele Schriften jener Zeit – Literatur, Plakate, Zeitungen – waren bereits durch ihren formalsprachlichen Aufbau für Vorlesesituationen konzipiert: Als Merkmale können dafür die Verwendung von Dialogen, eingängiger Sentenzen, kurzer Anekdoten und Sprichwörter sowie die direkte Ansprache der Leser als Zuhörer festgehalten werden.
Auch deutsche Revolutionsreisende berichten von der enorm emotionalen und somit auch politischen Wirkung der öffentlichen Sprache in Verbindung mit geschulter Rhetorik und Gestik, Pathos und Sinnlichkeit, die die Bevölkerung mitreißen sollte. Der Publizist Konrad Engelbert Oelsner hebt besonders die energische Sprachgewalt Mirabeaus, Dantons und Vergniauds heraus, an deren Lippen das Volk mit aller Hingabe gehangen hat.
rue_novilot - 24. Aug, 18:45
Der Streit um die Straßennamen in Paris nahm seinen Anfang in der Französischen Revolution und zog sich durch das gesamte 19. Jhdt. Die Helden der Revolution waren aber die ersten, die den Akt der Straßen(-um-)benennung gezielt und auch in größerem Rahmen für ideologisch-didaktische Zwecke nützten, die im Ancien Régime erst sporadisch aufgekommen waren. Der städtische Raum sollte gezielt mit einem gewünschten Sinn erfüllt werden, spontane Namensgebungen sollten vermieden werden.
Die Straßennamen, von Louis XIV als Mittel königlicher Repräsentation entdeckt, erfuhren schon bald nach Beginn der Revolution ihre erneute Instrumentalisierung; es entbrannte ein wahrer Sturmlauf gegen die alten Herrschaftszeichen.
In den Revolutionsjahren trugen daher viele Straßennamen revolutionäre Schlagworte im Namen, auch zum Gedenken vieler grands hommes wurden mit Straßen nach ihnen benannt. Dazu wurden vorrangig Straßen mit royalistischen oder religiösen Namen entsprechend umbenannt, zum Beispiel die rue Notre-Dame in rue de la Raison, la place de l’Oratoire in place de la Liberté, rue Princesse in rue de la Justice, rue Montmartre in rue Mont Marat, rue de la Chaussée d’Antin in rue Mirabeau, wobei letztere bereits 1792 nach dem Sturz des gleichnamigen Marquis in rue du Mont Blanc umbenannt wurde.
Während die erste Vorgabe einer großflächigen Verbreitung der revolutionären Ideale im Stadtplan als erfüllt angesehen werden darf, ist man mit der zweiten glorios gescheitert; gerade im Überschwang der Gefühle waren spontane, unkoordinierte Namensgebungen ein wiederkehrendes Element. Es mag die Revolutionäre wohl nur wenig trösten, dass auch die Regierungen nach ihnen dieses Problem lange Zeit nicht in den Griff bekommen haben. Zum Ausmaß der Umbenennungen seien einige Zahlen genannt: In Paris kam es zwischen 1790 und 1875 zu mehr als 1200 Änderungen im Straßenverzeichnis. Nach der Französischen Revolution bestand Paris aus 1337 Straßen, Plätzen, Wegen und dergleichen. Auch 50 Jahre später in der Zweiten Republik war der Straßennamenskataster von Paris mit insgesamt 1474 Ortsbezeichnungen nur wenig gewachsen. Man könnte daher sagen, dass im genannten Zeitraum nahezu jede einzelne Straße einen neuen Namen erhielt.
Freilich sah die Realität anders aus. Während manche Viertel weitgehend unbehelligt blieben, erfuhren vor allem repräsentative Straßen und Plätze eine wahre Hochschaubahn in ihren Bezeichnungen. Um die historischen Geschehnisse besser nachvollziehen zu können, wollen wir uns zunächst die Ausgangssituation im Ancien Régime ansehen.
Paris war seit dem Mittelalter deutlich gewachsen, auch so mancher Vorort war von der Stadt geschluckt worden. Neuansiedlungen erfolgten in weitgehend unkoordiniert gebauten Häusern, denen dann erst die entsprechenden Straßen folgten, die sie mit dem nächstgelegenen schon bestehenden Teil von Paris verbanden. So kam es, dass manche Wege Namen erhielten, die bereits an andere Straßen vergeben waren, es war aber genauso möglich, dass eine Straße über längere Zeit gar keinen eigenen Namen bekam. Im Straßenverzeichnis von Francois Colletet von 1722 finden sich für etwa 200 Straßen mehrfache Bezeichnungen, wobei die Namen meistens komplett unterschiedlich voneinander waren. Kurz vor der Revolution im Jahr 1785 trugen alleine 45 Straßen den Namen „rue neuve“.
Vor allem im Zentrum gab es viele enge, dunkle, teils unbenannte, teils doppelt benannte Straßen – ein Reform der Namensgebung war daher dringend nötig, um Handel und Reisenden bessere Orientierung zu verschaffen. Es kursierten oft verschiedene Namen für dieselben Straßen oder Plätze im Volk. Eine erste Innovation war die Einführung von Straßenschildern im Jahr 1728, die von den meisten Bürgern sehr begrüßt wurde. Über diese Schilder werde ich in einem gesonderten Beitrag noch näher informieren. Davon abgesehen begnügte sich das Ancien Régime jedoch damit, sich eigene Andenken durch repräsentative Straßennamen im Stadtbild zu setzen, die im vorigen Beitrag bereits geschildert wurden, eine Totalreform war nicht vorgesehen.
rue_novilot - 24. Aug, 18:40
Namen dienen in ihrer ursprünglichen Bestimmung schlicht der Benennung einer Sache. Diese Bezeichnungen können so vielfältig sein wie die Gegenstände, die sie beschreiben sollen. Bei Straßennamen ist das grundsätzlich nicht viel anders. Am Stadtbild von Paris lässt sich das wundervoll veranschaulichen.
Namen wachsen weder auf Bäumen noch fallen sie gottgegeben vom Himmel. Hinter einem Namen steht eine Idee, ein Motiv, warum das Ding so heißt wie es eben heißt. Auch hier offenbart sich Paris als reichhaltige Fundgrube verschiedenster Strömungen in seiner Geschichte.
In seinen Anfängen als kleine Siedlung auf einer nur wenig größeren Insel inmitten der Seine war die Notwendigkeit von Straßennamen nicht gegeben. Auch als Lutetia langsam etwas größer wurde, irgendwann um 360 n. Chr. den Namen Paris annahm und die Besiedelung der der Insel gegenüber liegenden Uferstreifen begonnen wurde, änderte sich dies nur langsam.
Die ersten Namen für bestimmte Orte in der Stadt entstanden direkt aus dem Volksmund heraus. Sie entsprangen häufig natürlichen geographischen Gegebenheiten, etwa wenn ein Weg einen bestimmten Ort kreuzte oder passierte, wie dies auf die rue de Bourg-l’Abbe oder die rue du Clos-Bruneau gilt. Die Nachbarschaft eines besonderen Gebäudes konnte ebenfalls Inhalt eines Straßennamens sein, als Beispiel seien die rue Saint-Germain-l’Auxerrois und die rue du Temple genannt. Straßen wie die rue de la Ferronnerie und die rue de la Verrerie zeigen auch, dass die Häufung bestimmter Gewerbe in manchen Arealen seinen Abdruck im Namenskataster hinterließ. Diese Agglomerationen waren durch die mittelalterlichen Zünfte und Gilden keine Seltenheit, die wir ja auch im modernen Wien an vielen Orten noch in den Straßennamen finden können, sei es am Fleischmarkt, der Bäckergasse oder den Tuchlauben. Aber auch Eigenarten an Ort und Stelle konnten namensgebend wirken. In Paris ist hier die rue de l’Egout zu nennen, in der sich ein großer Zugang zur städtischen Kanalisation befand. In der rue de l’Abreuvoir wiederum befand sich eine riesige Tränke für Pferde.
Eine Besonderheit stellt die Place de Grève dar. Ursprünglich war auch sie benannt nach einem geographischen Merkmal vor Ort, wobei „Grève“ eine Bezeichnung für einen flachen Sand- oder Kiesstrand darstellt. Daraus resultierte die Möglichkeit, dort Schiffe an Land zu ziehen, weshalb sich an dieser Stelle auch der erste Hafen von Paris entwickelte.
Im 19. Jahrhundert erfuhr das Wort „Grève“ jedoch eine etymologische Weiterentwicklung aufgrund der der Besonderheit der Place. Der Hafen war seit jeher Anziehungspunkt von Tagelöhnern und Arbeitern, so auch in Zeiten, in denen sich keine Arbeit für sie fand. Ihre Protestversammlungen hielten sie dann ebenfalls an der Place de Grève ab, wobei die Redewendungen „faire la grève“ und „être en grève“ (sinngemäß: streiken) in den französischen Sprachgebrauch Eingang fanden.
All den beschriebenen Namenstypen ist gemein, dass sich ihre Herkunft unmittelbar (re-)konstruieren lässt. Die Burg des Abbes hat der Betrachter genauso vor Augen wie die Pferdetränke und die geschäftige Händlerzeile. Es fängt erst an, kompliziert zu werden, wenn der Straßenname nichts mehr mit der Straße zu tun hat. Solche abstrakten Namen lassen sich nicht mehr logisch nachvollziehen, sie müssen einfach auswendig gelernt werden. Vor allem aber müssen sie allen Menschen gleichermaßen bekannt gemacht werden, damit sich eine einheitliche Bezeichnung sicher gestellt ist, bevor der Volksmund einem Weg einen eigenen Namen gibt.
Genau diese Dinge sind jedoch in Paris wieder und wieder passiert. Wie so oft, auch hier fängt es ganz harmlos an. Die ersten Straßennamen kamen zwar noch direkt von den Einwohnern selbst Volksmund, dennoch erfuhren sie über die Zeit so manche Veränderung, die sich zunächst meist auf einfache Verballhornung der Sprache zurückführen lassen, wenn die Menschen Wörter schlampig aussprechen oder Wortteile verschlucken. So wurde aus der rue Sacalie die rue Zacharie, aus der rue Thibaut-aux-Dés die rue Thibautodé, aus der rue des Jeux-Neufs die rue Jeuneurs.
Mit dem weiteren Wachstum von Paris änderten sich auch die Herrschaftsverhältnisse. Auf sie soll nicht genauer eingegangen werden, wichtig ist jedoch ein allgemeiner Prozess, der sich an vielen Orten Europas beobachten ließ: Die schon in archaischer Zeit übliche direkte und unmittelbare Herrschaft wurde von einer indirekten und mittelbaren Zentralgewalt abgelöst. Regierte einst der Stammesführer direkt seinen kleinen Clan, stand nun ein König einem großen Volk vor, dessen überwiegender Teil seinen Herrscher nie zu Gesicht bekam, sondern von einem riesigen Beamtenapparat befehligt wurde.
Konnte ein Häuptling früher seinen Führungsanspruch durch sein Charisma und seine persönlichen Führungsqualitäten durchsetzen, so war dies dem König nicht mehr möglich. Straßennamen boten dem Regenten die Möglichkeit, öffentlichen Raum in seinem Sinn einzunehmen und ein gewünschtes Image zu vermitteln.
In Frankreich kam es ab dem 17. Jhdt zu solchen offiziellen Namensgebungen, die nicht mehr vom Volk durchgeführt wurden, sondern vom obersten Herrscher gezielt durchgesetzt wurden. Hierbei kamen zunächst Mitglieder der Königsfamilie zu Ehren. In Paris zeugen davon die rue Sainte-Anne, die rue Louis-le-Grand, die rue Thérèse, die rue Christine oder auch die rue Saint-Louis. Wenn dem Regenten die Familienmitglieder ausgingen, hielt er sich an große Persönlichkeiten seiner Zeit. So kamen die rue Richelieu, die rue Colbert, die rue Mazarin, die rue Vendôme, die rue Verneuil oder die rue Gesvres zu ihren Namen. Um 1780 waren auch die lebenden wichtigen Personen im Stadtbild untergebracht, die Stadt wuchs jedoch munter weiter, weshalb ab dieser Zeit verdiente Persönlichkeiten auch posthum ihr Andenken in Form eines Straßennamen erhielten. Die ersten davon waren die Künstler Corneille, Racine, Molière und Crébillon.
Die Straßen trugen damals jedoch noch keine Schilder und da es auch noch kaum Stadtpläne gab, musste man oft lange suchen, bis man die gewünschte Straße gefunden hatte.
rue_novilot - 2. Aug, 22:20
Aufgrund der intensiven Erlebnisse und unter dem Eindruck der Fülle an neuen Informationen habe ich mir nun doch eine kleine Auszeit gegönnt, um alles ein wenig verarbeiten und sortieren zu können, ich ersuche dafür um Verständnis. Ich habe aber nicht die Hände in den Schoß gelegt, sondern mich in Wien auf neue Literatur gestürzt. Dazu noch später mehr. Beginnen möchte ich mit der Nachreichung der gewünschten Zusammenfassung, die vor dem Ausflug nach Paris zu schreiben war. Geschrieben hatte ich sie auch, in den Wirren der Vorbereitungen allerdings nicht online gestellt, was ich nun nachholen möchte:
(Wien, 27. Juni 2008)
Nach einigen neugierigen Vorstößen in die vielfältigen Facetten von Paris ist es Zeit ein erstes Resümee zu ziehen. Noch vor wenigen Monaten wusste ich von der französischen Hauptstadt kaum mehr als eben deren Hauptstadtfunktion, als nächste Assoziation folgte schon der Fußballklub Paris St. Germain, der 1995 dem SK Rapid Wien im Finale des mittlerweile aufgelassenen Bewerbes Cup der Cupsieger einen österreichischen Triumph vermasselt hat. Das ist zwar auch schon wieder 13 Jahre her, wirklich historisch wertvoll aber deshalb noch lange nicht. Insofern finde ich es recht beachtlich, was ich nun bereits alles an Wissen, an Eindrücken und Impressionen dieser Stadt in Erfahrung bringen konnte, ohne sie überhaupt noch gesehen zu haben.
Rückblickend hat es sich als Glücksgriff erwiesen, zuallererst mit historischen und modernen Stadtplänen zu hantieren und so einen Überblick über die geographische Lage bedeutender Bauwerke, Straßen und Achsen zu gewinnen. Im weiteren Verlauf war es dadurch sehr hilfreich, in der Literatur erwähnte Örtlichkeiten bereits im Kopf der richtigen Stelle in Paris zuordnen zu können.
Dieses erste Gerippe an Informationen erfuhr dann seine weitere Verdichtung. Nach einem Streifzug durch die Ereignisgeschichte beginnend mit den ersten keltischen Siedlern ist mir aufgefallen, dass sich in der Benennung verschiedener Straßenzüge und Plätze im Laufe der Zeit recht bemerkenswerte Dinge zugetragen haben, denen ich mich gewidmet habe. Stellvertretend sei auf die rue d’enfer hingewiesen, die eine moderne Verballhornung der lateinischen via inferior darstellt. Ich finde es erstaunlich, dass sich dieser Straßenname bereits seit 2 Jahrtausenden gehalten hat.
Freilich ist es die Ausnahme. Gerade in politisch unruhigen Zeiten war es ein probates Mittel, Bezeichnungen öffentlicher Räume für Propagandazwecke zu vereinnahmen. Ohne noch genau auf die historischen Ereignisse einzugehen, die ich noch gesondert veröffentlichen möchte, finde ich einen anderen Gedankengang sehr anregend: Ungeachtet der Skurrilitäten um mitunter häufig wechselnde Benennungen für Plätze und Straßen in Paris, wo es gerne auch vorkam, dass einerseits manche Namen mehreren unterschiedlichen geographischen Orten zugleich gegeben wurden und andererseits ein und derselbe Ort mehrere verschiedene offizielle Bezeichnungen trug, musste doch die Pariser Bevölkerung einen modus vivendi gefunden haben, um mit diesem für den Alltag ungemein unpraktischen Zustand zurande zu kommen.
Ich halte es daher für eine sehr spannende Frage, nach welchen Kriterien sich die Bewohner auf gemeinsame Termini verständigt haben, damit sie einander bei avisierten Treffen auch tatsächlich am selben Ort angetroffen haben. Gleichwohl ist es nicht weniger spannend herauszufinden, wie erfolgreich die jeweiligen Machthaber mit der Implementierung der von ihnen neu ersonnenen Bezeichnungen waren. Was bedurfte es für Umstände, damit diese auch verwendet wurden und nicht die gewohnten althergebrachten Namen im Volksmund weiterlebten?
Als Synonym für den Begriff Semantik stoße ich auf den Begriff Wortbedeutungslehre. Es trifft sich daher eigentlich sehr gut, dass ich mich mit meinem Thema letztlich in diesem Dunstkreis bewege.
Es ist evident, dass ein neues Regime jedes greifbare Mittel ausschöpfen wird, um seine Macht zu festigen und auszubauen. Die Verankerung von Schlagwörtern der herrschenden Bewegung in den Köpfen der Bevölkerung ist hierbei nahe liegend, auch, dass man dazu Bezeichnungen heranzieht, die im Volksmund oft verwendet werden, was uns zu den Straßennamen führt. Das verbreitete Analphabetentum zu Zeiten der Französischen Revolution wirkt hier noch verstärkend, da über schriftliche Medien nur ein kleiner Teil der Bevölkerung erreicht werden konnte. Zurück zur Semantik.
Mit der Entscheidung, überholte Namen aus dem Straßenregister zu tilgen, war es noch nicht getan, auch die Auswahl für die neuen Bezeichnungen musste klug und überlegt erfolgen. Sie hatten nicht nur die gewünschten Ideale repräsentieren, sondern sollten auch im Alltag wohlklingend sein und leicht über die Lippen kommen.
Am Beispiel der Revolution von 1789 lässt sich hier ein wunderschöner Lernprozess der Verantwortlichen nachzeichnen. Nicht wenige der im ersten Überschwang der Euphorie eingeführten Straßennamen wurden bald wieder durch andere ersetzt. Ein besonders delikates Problem erwuchs aus dem Umstand, dass viele der Revolutionäre im Fortgang der Ereignisse selbst guillotiniert wurden, jedoch einen Straßenzug mit ihrem Namen hinterließen, der das Regime in peinliche Erklärungsnot brachte. Letzten Endes führte dies dazu, dass man aus Vorsicht selbst den populärsten Personen keinen Ortsnamen mehr verehrte – man konnte ja nie wissen.
rue_novilot - 31. Jul, 14:52
Während sich die bisherigen Tätigkeiten darauf beschränkten, sich der Stadt Paris auf verschiedenen Weisen anzunähern, so verlagert sich das Arbeitspensum zunehmend von der oberflächlichen Sichtung von allerhand Literatur zu allen möglichen Themengebieten hin zum tiefer gehenden Eintauchen in einige wenige davon, nachdem sich die eigentlichen Arbeitsthemen zunehmend immer deutlicher herauskristallisieren.
Als einleitende Orientierung möchte ich zunächst mit einigen Sätzen das antike Paris, sprich die ersten Anfänge der Siedlungstätigkeit, umreißen, da es sich – wenn man weiß, wo man suchen muss – auch noch im heutigen Paris wieder findet.
Das Pariser Becken ist schon seit etwa 2000 v. Chr. ständig besiedelt. Da von den Kelten keine Schriftquellen erhalten sind, findet sich die erste Erwähnung des damaligen Lutetia jedoch erst mit Ankunft der Römer im Zuge deren Expansion in Gallien. Im Jahr 53. v. Chr. schreibt Cäsar in seinem „De Bello Gallico“: „Id est oppidum Parisiorum quod positum est in insula fluminis Sequanae“ (= Dies ist die Ansiedlung der Pariser, welche auf einer Insel der Seine gelegen ist).
Von der ersten keltischen Siedlung weiß die Forschung nicht viel mehr, als dass es sie gegeben hat und auf der Insel in der Seine, der heutigen Ile-de-la-Cité, gelegen war. Gründe für diesen Siedlungsort gibt es mehrere. Der erste ist der trockene Boden der Insel inmitten der Sumpflandschaft des Pariser Beckens, wobei dieser Flecken Erde zusätzlich noch durch den Wasserring der Seine geschützt war. Außerdem war die Seine an dieser Stelle am leichtesten zu überqueren, wodurch die Stelle rasch Verkehr und somit Handel nach sich zog.
Den Mustern keltischer Siedlungen aus der Region folgend darf man annehmen, dass Lutetia anfangs aus hölzernen Brücken, einer Schiffsanlegestelle, einer Hauptstraße, einer Palisade und runden Holzhäusern bestand.
Anstelle des heutigen Canal St. Martin floss an dieser Stelle in der Antike ein Nebenarm der Seine, der durch sumpfiges Gebiet führte, den „Marais“. Er reichte bis an den Montmartre heran, weshalb neben der Seine-Insel anfangs nur das Südufer der Seine, das heute als „rive gauche“ bezeichnet wird, besiedelt war. Die damaligen Nebenflüsse wie Sèvre und Bièvre sind ebenfalls in der heutigen Kanalisation aufgegangen.
Nach der Eroberung der Siedlung durch die Römer wurde diese zuerst vollständig zerstört und anschließend neu gegründet. Die Kelten zogen sich auf das Gebiet jenseits der Insel zurück. Die Römer errichten am Montagne Geneviève zusätzlich eine Römerstadt. Um das Jahr 300 taucht erstmals der Ortsname Paris auf.
Römische Siedlungen entsprechen in ihrer Grundstruktur der Anlage römischer Militärlager, die im gesamten römischen Reich nach demselben Muster angelegt wurden. Als Dreh- und Angelpunkt gilt ein Straßenkreuz im Zentrum. Ein solches finden wir auch in Paris, wobei als West-Ost-Achse keine Straße angelegt wurde, sondern hierfür die Seine fungierte, was deren frühe Nutzung per Schiff untermauert.
Die römische Hauptstraße überquerte die Seine im senkrechten Winkel zum Fluss. Die heutigen Straßen an dieser Stelle folgen noch genau dem ursprünglichen Verlauf, wie archäologische Grabungen bestätigen.
Die Hauptachse führt zwischen den Hügeln Montmartre und Belleville über die Schwelle von La Chapelle zur Ile-de-la-Cité und verlässt den Ort nach Süden zwischen dem Montagne Geneviève und der Montparnasse. Heute tragen diese Straßen die Namen Rue St. Martin nördlich und Rue St. Jacques südlich der Seine.
Auch die römischen Nebenstraßen haben sich lange Zeit im Pariser Straßenraster erhalten. Diese Straßenzüge wurden erst durch Haussmann im 19. Jahrhundert aufgesprengt, als der boomende neuzeitliche Verkehr nicht mehr bewältigt werden konnte und neue, breitere Durchzugsstraßen angelegt wurden.
Quellen:
Dieter Kimpel, Paris: Führer durch die Stadtbaugeschichte, München 1982
Fritz Stahl, Paris – Eine Stadt als Kunstwerk, Wien 1966
Abschließend möchte ich noch auf eine Dokumentation zum Thema hinweisen, die ich zufällig im TV-Programm entdeckt habe und heute und morgen im Kanal Phoenix ausgestrahlt wird:
Titel: Und der Mensch schuf... Paris - Aufstieg zur Weltstadt
Beschreibung: Wie sahen London, Paris und New York in der Vergangenheit aus? Wo lagen die städtebaulichen Meisterleistungen, die auch heute noch das Bild dieser legendären Metropolen prägen?
Mit Hilfe von Historikern und Archäologen deckt der Film die Spuren der Vergangenheit auf und rekonstruiert die geschichtlichen Hintergründe der Entstehung und Entwicklung dieser Weltstädte.
Paris: Eleganz und Stil prägen das Image der "Lichterstadt". Doch die Geschichte von Paris verbirgt sich fern der netten Cafés und berühmten Avenuen. Beim Besuch der Keller und Katakomben oder beim Schlendern durch die Straßen kommen ehemalige Festungen sowie ein kompliziertes Netz aus Kanälen und Tunneln zum Vorschein.
Selbst der Paris-Kenner wird überrascht sein, was er über die Thermen von Cluny, den Bau des Pont Neuf und die Wolkenkratzer der futuristischen Bürostadt La Défense erfährt.
Sendetermine:
Mi, 14.05.08, 20.15 Uhr
Do, 15.05.08, 08.15 Uhr
rue_novilot - 14. Mai, 16:16
Es sind die schönsten Momente im Studium, wenn sich erweist, dass sich das bisher Erlernte im Geschichtestudium allen Zurufen aus dem Off des etablierten und ach so praxisnahen Wirtschaftslebens zum Trotz keineswegs nur zum sprichwörtlichen Orchideenzüchten eignet.
Neben meinen bereits erwähnten „Außenseiterstudien“ zum Französischen Revolutionskalender habe ich mich auch, am Institut für Ur- und Frühgeschichte, mit Luftbildarchäologie beschäftigt, einer Disziplin, die vermutlich bei vielen Historikern überhaupt jenseits der Wahrnehmungsschwelle liegt.
Das ist eigentlich schade. Als angehender Historiker an der Uni Wien erstreckt sich die Vermittlung von Quellenkunde weitestgehend auf Bibliotheksbestände, Steintafeln und archäologischen Fundstellen, der „bildlichen und dinglichen Quellen“ eben, wie es ja so schön im Lehrplan heißt. Kreative Annäherungen an Quellen an sich und auch an andere Quellen im Besonderen ist da meiner Erfahrung nach so nicht wirklich vorgesehen. Dabei vermag die Betrachtung aus der Luft zu erstaunlich neuen Perspektiven verhelfen, und das nicht nur ob der Fotodarstellungen aus der Vogelperspektive.
Nun, da lernt man also vor sich hin, wie verschiedene Bodenverfärbungen, Schattenmerkmale und dergleichen mehr auf darunter liegende Fundstellen hinweisen könnten und freut sich im Stillen, etwas zu kennen, was viele andere nicht kennen.
Und dann fällt einem plötzlich das Buch von Leonardo Benevolo und Benno Albrecht in die Hände. Sie greifen auch die Technik der Luftbildarchäologie auf, um Veränderungen in der Landschaft durch den Menschen und dessen Auswirkungen sichtbar zu machen. Auch Paris wird ein Kapitel gewidmet: Die Autoren stellen sehr anschaulich dar, wie die Champs Élysées eine kilometerlange und schnurgerade Schneise durch Paris schlägt und beleuchten die Motive hinter diesem bis heute überdauernden Charakteristikum von Paris. Etwa in der Mitte wird die Prachtstraße vom Triumphbogen in zwei Hälften geteilt, wobei sich dieses Bauwerk auch nicht zufällig an der höchsten Erhebung der Straße befindet.
Während mir die Basteleien rund um den Kalender der Französischen Revolution einen recht anschaulichen Eindruck um die Mentalität und den Wunsch nach radikaler Veränderung in mannigfaltigen Lebensbereichen vermittelte, ermöglichen es mir die „handwerklichen“ Methoden der Luftbildarchäologie den Wandel im Stadtbild von Paris besser nachzuvollziehen. Verbunden mit der aktuellen Fragestellung dieses Seminars eine wundervolle Kombination.
Und so schließt sich der Kreis. Aus zwei für sich isoliert betrachtet kaum sinnvoll anwendbare Themenfelder erwächst in Verbindung eines Dritten ein gemeinsamer großer Themenkomplex, dessen Einzelteile sich hervorragend ergänzen und zu einem neuen großen Ganzen zusammenfügen.
Das hat jetzt alles zusammen streng genommen immer noch recht wenig mit dem Erarbeiten einer konkreten Fragestellung für das Seminar zu tun, aber es illustriert doch sehr schön, wie man sich auf Basis bisheriger Erfahrungen dem Thema annähern kann. In meinem Fall kristallisiert sich langsam eine Tendenz auf die Stadtwerdung und Stadtentwicklung von Paris heraus, wobei ich mich hier derzeit noch nicht auf ein Quartier festlegen kann und will. Aber damit ist bereits ein Weg eingeschlagen, und ein ratloses Verharren ohne Weiterentwicklung wird auch verhindert.
Meine Jagd nach Informationen und Plänen zum Stadtbild von Paris quer durch die Jahrhunderte hat mich auch in die Bibliothek des Instituts für Geschichte geführt, wo ich in der Kartenabteilung fündig geworden bin:
- Atlas de l’histoire de France (A II / 70)
- Atlas de la révolution française: Paris (A II 48 / 11)
- Petit Atlas historique des Temps modernes (A II / 85)
Alle drei Bücher beschäftigen sich mit den Ereignissen der Französischen Revolution, wobei jedoch die politische Ereignisgeschichte bestenfalls gestreift wird, der Schwerpunkt liegt auf dem Sichtbarmachen von ihren Auswirkungen, die meist in Form von Plänen graphisch dargestellt werden, beispielsweise Veränderungen von Bevölkerungsdichten in ganz Frankreich und der Stadt Paris. Alle drei Bücher zusammen lassen hier kaum einen Lebensbereich aus, ich habe sie aber noch nicht im Detail durchgearbeitet.
Und dass ich am Leben und Wirken des Baron Haussmann auch nicht vorbeikommen werde, zeigt sich immer klarer. Ein kurzer Blick unter seinem Namen in den Universitätskatalog genügt jedoch, um mir sicher zu sein, dass mir der Lesestoff nicht ausgehen wird.
rue_novilot - 8. Apr, 17:56
Im heutigen Eintrag wollte ich mich ursprünglich mit dem in der letzten Einheit gereichten Werk „Grenzen. Topographie, Geschichte, Architektur“ von Leonardo Benevolo und Benno Albrecht beschäftigen, das mir einige verfolgenswerte Anregungen hinsichtlich der stadtplanerischen und landschaftlichen Gestaltung von Siedlungen gegeben hat, die ich gerne in Hinblick auf den Wandel des Pariser Stadtbildes näher beleuchten möchte.
In einem der Kapitel wird auch sehr schön die Achse, welche die ins frühneuzeitliche Paris geschlagene Schneise für die angelegte Champs-Élysée geformt hat, erläutert, besonders die kraftvolle Wirkung des an erhöhter Stelle errichteten Arc de Triomphe. Aber die möglichen Variationen der Einbettung von Bauwerken in diverse Gelände- und Siedlungsformen wurden durch eine aktuelle Sendereihe des MDR überlagert.
Letzten Sonntag Abend bin mehr zufällig über die vierteilige Dokumentation „Napoléon und die Deutschen" gestolpert.
Darin wurden die Auswirkungen auf die deutschen Länder durch die napoleonische Eroberung thematisiert. Dazu wurden sehr geschickt verschiedene miteinander verwobene Handlungsstränge auf verschiedenen Ebenen nacherzählt, was nicht nur den Inhalt, sondern auch deren Aufmachung sehr interessant machte. Um die Veränderungen im Alltagsleben der Bevölkerung möglichst anschaulich zu vermitteln, hat man Ereignisse anhand realer Personen dargestellt.
Im ersten Teil wurde dazu beispielsweise die Lebensgeschichte des Grafen von Belderbusch erzählt, der eine der ersten Scheidungen in den deutschen Territorien durchgeführt hat, um für seine Geliebte frei zu sein. Diese Scheidung war natürlich nur möglich, seit Napoléon die Allmacht der Kirche gebrochen hat. An anderer Stelle zeigt der Film das Leiden des Gerald Führer, der zusehen muss, wie sein Kloster, dem er jahrzehntelang als Abt vorstand, durch die Säkularisierung allen Inventars bei einer simplen Versteigerung entzogen wurde. Im letzten Teil wiederum werden anhand der Tätigkeit des Zöllners Jean Joseph Poirot die Folgen – namentlich der Schmuggel – der von Napoléon verhängten Kontinentalsperre aufgezeigt.
Mit dieser Methode ist es den Sendungsmachern gelungen, die alltagsnahen Auswirkungen für verschiedenste Bevölkerungsteile, auf Basis deren unterschiedlicher Wünsche, Nöte und Bedürfnisse, zu beleuchten, die die „großen“ politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen der damaligen Zeit auf den Einzelnen hatten – und dies auf sehr kurzweilige und informative Art. Geschichte wird auf diese Weise erleb- und nachfühlbar.
Die Dokumentation hat nicht nur meine historischen Lücken über Napoléons Geschicke nach seiner Machtübernahme vervollständigt, sondern mir auch viele seiner Neuerungen nahe gebracht, die mitunter bis heute gültig sind. Ich wusste etwa nicht, dass die Vereinheitlichung sämtlicher Maße und Gewichte im heutigen Deutschland auf ihn zurückgeht und dass unter seiner Ägide mit der Unzahl verschiedener Maßsysteme aus dem Mittelalter von Meilen, Ellen und dergleichen in nahezu jeder deutschen Handelsstadt aufgeräumt und alles durch den Meter ersetzt wurde. Vom Pariser Urmeter hatte ich wohl schon gehört; mit Napoléon, vom Stigma des „Streitbaren“ umgeben, hätte ich ihn jedoch nicht assoziiert.
Die Serie skizziert ein differenziertes Bild von Profiteuren und Verlierern der „Befreiung“ der deutschen Länder durch Napoléon und stellt bis ins Detail dar, welche Teile der Bevölkerung von bestimmten Maßnahmen profitierten und welche Stände im Wandel unter die Räder kamen und sich rasch gegen Napoléon stellten, auch die Organisation des Widerstandes unter dem aufgehenden Stern des deutschen Nationalismus wird thematisiert.
Langer Rede, kurzer Sinn: Die Sendereihe hat mir sehr geholfen, anhand ihrer Portraits ausgewählter Personen, mir den bereits im vorigen Eintrag angesprochenen Zeitgeist zur Zeit der Französischen Revolution und danach vor Augen zu führen und mein im letzten Beitrag angesprochenes Ansammeln von Faktenwissen erfreulich aufgelockert und sinnvoll ergänzt.
Eine Kurzbeschreibung der einzelnen Teile der Dokumentation ist hier zu finden:
http://www.arte.tv/de/geschichte-gesellschaft/Napoleon/TV-Programm/1206582.html
Der MDR hat außerdem ein eigenes Portal ins Leben gerufen, das die einzelnen Personen und Themenbereiche näher beschreibt:
http://www.mdr.de/napoleon
Noch einige Worte zu meinen Bemühungen um eine Bestandsaufnahme des Pariser Stadtbildes: Ich konnte mittlerweile verschiedene historische Karten von Paris zusammentragen – angefangen von der ersten römischen Besiedelung bis hin zur Zeit der Französischen Revolution – und werde versuchen festzustellen, ob es neben der großen axe historique auch andere Straßenzüge oder Quartiers gibt, die sich über die Jahrhunderte weitgehend unverändert erhalten konnten bzw. aus welchen Motiven sich bestimmte Stadtteile verändert haben.
rue_novilot - 28. Mär, 18:07
Es ist eigentlich eine ganze Menge, das ich mit Paris verbinde; meinen ersten und einzigen Besuch im Alter von 14 Jahren, dessen Erinnerungen an das damlige klassische Sightseeing jedoch weitgehend wieder verblasst sind, jedoch immer noch schöne Panoramabilder vom Tour Eiffel und dem Sacre-Coeur aus beinhalten; einige wundervolle feminine Exporte aus jener Stadt, die ich im Rahmen meiner bis vor kurzem währenden WG-Zeit in den geteilten vier Wänden beherbergen konnte, was sich nicht zuletzt sehr positiv auf meine Französischkenntnisse ausgewirkt hat.
Natürlich sind auch die wichtigsten Ereignisse der Französischen Revolution samt deren handelnden Personen noch aus dem Schulunterricht präsent.
Ansonsten bin ich nur einmal im Verlauf meines Studiums bisher an jene Zeit angestreift. Als ich mich, besonders im Verlauf des vergangenen Sommersemesters, mit den verschiedenen Methoden der Zeitrechnung im Laufe der Geschichte beschäftigt habe, bin ich auch auf den Französischen Revolutionskalender gestoßen. Auch wenn er nur etwa 15 Jahre in Verwendung war, sorgte er doch durch seinen grundlegend anderen Aufbau für einen gehörigen Aufwand, vor allem was die Umrechnung zwischen Datumsangaben nach ihm und dem gregorianischen Kalender betraf. Um mir das zu erleichtern, habe ich daher ein Programm in Microsoft Excel geschrieben, das diesen Vorgang automatisieren sollte, was auch gelungen ist.
Mit der Revolution an sich habe ich mich damals aber kaum
auseinandergesetzt, wenngleich das Motiv, einen neuen, völlig anders strukturierten Kalender zu kreiern, selbstverständlich dort zu suchen ist.
Rückblickend zeigt der Französische Revolutionskalender jedoch sehr anschaulich den Wunsch nach radikaler Veränderung in mannigfaltigen Gesellschaftsbereichen, so eben auch in der Datierung, die bewusst mit der christlichen, kirchlichen Zählung brach.
Der bisherige und bis heute verwendete gregorianische Kalender wurde durch eine Zehntageswoche ersetzt. Jeweils drei davon bildeten wiederum einen Monat. Die auf das Sonnenjahr noch fehlenden fünf bzw. sechs Tage wurden durch sogenannte "jours complementaires" am Jahresende eingefügt. Der Jahreswechsel wurde auf den 22. September gesetzt, da im Jahre 1792 an diesem Tage die Monarchie abgeschafft wurde.
Während die Wochentage noch relativ einfallslos einfach durchnummeriert wurden ("Primidi, Duodi, Tridi", usf.), setzte sich in den Monatsnamen der Wunsch nach neuer Naturverbundenheit durch. Viele Monate sind in Anlehnung auf jeweils vorherrschende
Naturereignisse oder klimatische Verhältnisse gewählt. Als Beispiel seien der im Frühjahr geltende Floréal erwähnt, wobei der Begriff "flor" auf die wiedererwachende Flora und Faune hinweist, der Sommermonat Thermidor wiederum trägt das Attribut "warm" in sich.
Ende 1805 hat Napoléon schließlich dieses im Alltag sehr unglückliches Experiment beendet und ist wieder zum gregorianischen Kalender zurückgekehrt, natürlich auch aus politschen Gründen, jedoch war es auch schlichtweg praktischer, die auch in Resteuropa übliche Datierung zu verwenden.
Davon abseits sind meine Kenntnisse noch reichlich dünn, aber immerhin lässt sich mit dem nun wieder in Erinnerung gerufenen Vorhandenen der Zeitgeist zum Zeitpunkt der Revolution doch ganz gut vergegenwärtigen.
Es gilt nun weiteres Wissen anzusammeln. Dazu möchte ich, als Basis von der Revolution ausgehend, immer weitere Kreise sowohl in die Vergangenheit wie auch in die damalige Zukunft ziehen. Begonnen habe ich daher mit der Lektüre von Wolfgang Schmales "Geschichte Frankreichs" im Kapitel 6, das mit dem Beginn der Revolution einsetzt.
Parallel dazu möchte ich außerdem Kartenmaterial zusammentragen, um das jeweilige Stadtbild der Zeit mit dem aktuellen vergleichen zu können.
Ein moderner Stadtplan ziert bereits die Wand hinter meinem Schreibtisch, um mir anhand der wichtigsten Gebäude rasch eine erste Orientierung zu verschaffen.
rue_novilot - 12. Mär, 14:52