24
Aug
2008

Die Revolution vernichtet ihr royalistisches Erbe

Die Motivation der Straßenumbenennungen kann nicht hinreichend verstanden werden, ohne die dafür notwendigen vorausgehenden Begleitumstände zu kennen, die ebenso einen dramatischen Eingriff ins Pariser Alltagsleben darstellten. Als eine der ersten Maßnahmen beschlagnahmte die Revolution die Wohnungen der Emigranten und löschte die Mönchsorden aus, deren Güter verstaatlicht wurden, immerhin insgesamt 4400 Objekte, darunter 9 Abteien, 108 Klöster, 69 Kirchen und 39 Kapellen. Entweder wurden sie aufgeteilt oder aber zerstört, und an ihrer Stelle neue Straßen und Plätze angelegt. Auf diesem Wege entstanden die Place de l’Hôtel-de-Ville, Place de la Bastille, Place du Châtelet und Place du Caroussel. Auch die Rue de Rivoli zwischen der Place de la Concorde und der Place du Caroussel wurde so realisiert, wie auch viele weitere Straßen.

Noch 1789 wurde Paris durch die Generalstände in 60 Distrikte eingeteilt, wobei fast alle Distrikte religiöse Namen erhielten und jeder von ihnen Stammsitz einer Kirche oder einem Äquivalent war. Diese Einteilung war jedoch aufgrund der aufkeimenden Religionsfeindlichkeit nicht zufrieden stellend und wurde daher schon 1790 durch eine Einteilung in 48 Sektionen ersetzt, wobei auch die Namen neu vergeben wurden. Diese waren großteils nüchtern ortsbezogen gewählt, es kamen keine kirchlichen oder royalistischen Namen mehr vor. Manche Sektionen wurden im Fortgang der Revolution erneut umbenannt. So erschien 1793 den Revolutionären die Bezeichnung „Louvre“ doch noch zu sehr an das Ancien Régime zu erinnern und wurde durch ein schlichtes „Museum“ ersetzt. Zur gleichen Zeit wurden aus „Ponceau“ die „Amis de la Patrie“, „Roi-de-Sicile“ zu „Droits de l’Homme“, „Notre-Dame“ zu „Cité“ und „Grange-Batelière“ zu „Mirabeau“.
1795 wiederum wurden aus den 48 Sektionen 48 Quartiers, die in 12 Arrondissements zusammengefasst wurden. 1860 wurde schließlich die heutige Einteilung mit 20 Arrondissements zu je 4 Quartiers festgelegt, die an späterer Stelle noch näher erörtert werden soll.

Noch einige Randnotizen zu den baulichen Neuerungen im Stadtbild: Ab dem Jahr 1797 wurden die oft mit Müll, Kot und ähnlichem verstopften Rinnsteine von der Straßenmitte an den Straßenrand verlegt. Diese Maßnahme, so sehr sie sicherlich von den Parisern begrüßt wurde, beraubte den schadensfrohen Zeitgenossen jedoch um ein ganz besonders Schauspiel, das uns Louis Sébastien Mercier genüsslich schildert: Solange die Gosse in der Mitte der Straße war, kam es vor, dass ein breiter, schmutziger Bach die Straße teilte. Wollte ein Fußgänger die Straßenseite wechseln, so eilte ein für einen Liard hilfsbereiter Mitbürger mit einem mobilen Brückchen herbei, über das der Passant dann nervös auf die andere Straßenhälfte balancierte.
Auch setzten sich langsam Trottoirs für Fußgänger durch, deren Fehlen Mercier bereits angeprangert hatte. Als erste Straße mit Gehsteig war bereits 1779 die rue de l’Odéon geschaffen worden, der 1784 die rue Louvois und 1786 die rue Le Peletier folgten.

Zur Verbesserung der hygienischen Zustände wurde alles Schlachtwesen aus der Stadt heraus in die Abattoirs verlegt. Auch hier vermittelt uns Mercier ein anschauliches Bild aus den katastrophalen mittelalterlichen Verhältnissen noch im ausgehenden Ancien Régime: Er nennt die Rue du Pied-de-Boeuf den „stinkendsten Ort der ganzen Stadt“ mit seinen Schlachtereien. Das Vieh wurde öffentlich geschlachtet, das Blut floss in den Straßen, außerdem bestand stets latente Gefahr von flüchtenden Tieren.
An diesem Ort stand zudem nicht nur das in der Bevölkerung gefürchtete Grand-Châtelet, sondern war auch Stätte eines schmutzigen Marktes mit dunklen Gewölben, außerdem noch der Sammelplatz für alle Leichen aus der Seine und dem Pariser Umland. Das alles wurde ergänzt durch ein Gefängnis, eine Fleischerei und ein Schlachthaus, die am Anfang des Pont-au-Change liegen, auf damals noch Brückenhäuser standen, die Mercier furchtbar hässlich findet. Außerdem entsetzt er sich über dieses Viertel als Zentrum der Prostituierten, welche ebenfalls ausnehmend derb und unansehnlich waren und vor allem von Metzgerburschen frequentiert wurden.

Die kleinen Kirchhöfe um die Gotteshäusern herum, längst überfüllt und zu Brutstätten unzähliger Krankheitserreger geworden, wurden geschlossen und dafür im Jahr 1804 die Totenstadt Père-Lachaise angelegt, benannt nach dem Beichtvater Louis XIV, dessen Landsitz hier gelegen hatte. Mercier unterlässt es auch hier nicht, den pestilenzartigen Gestank der Friedhöfe mitten im Stadtgebiet zu beklagen, da die Leichen nur wenig tief bestattet wurden und durch Erosion oder Überschwemmungen ihre Körper immer wieder freigelegt wurden.
Angesichts dieser Zustände verwundert es übrigens nicht, dass Mercier „Lutetia“, den ersten Namen von Paris, wenig charmant mit „Dreckstadt“ übersetzt, wobei er sich auf das lateinische Wort „lutum“ für Kot oder Lehm bezieht. Diese Herleitung mag zwar emotional verständlich sein, sachlich fundiert ist sie nicht; in der Forschung ist die wahre Herkunft des Namens unbekannt.

Abseits von Paris
Die Ereignisse der Französischen Revolution waren kein Pariser Phänomen und auch nicht auf Paris beschränkt, sondern hinterließen auch in der Provinz ihre Spuren. Während sich manche Städten aber nur wenig von der Pariser Euphorie anstecken ließen und keine radikalen Änderungen vorgenommen wurden, so sind die Auswirkungen in Reims doch eine Erwähnung wert:
Bereits fünf Tage nach dem Sturm auf die Tuilerien in Paris verfügte die Reimser Stadtverwaltung die Zerstörung eines ihrer bedeutendsten Wahrzeichen, ein von Pigalle gefertigtes Standbild Louis XV auf der Place Royale. Ersetzt wurde es durch eine revolutionäre Freiheitsstatue, die eigentlich eine rasch aus einem nahen Kloster herbeigeschaffte Muttergottesfigur war, die eiligst auf revolutionär getrimmt wurde. Anschließend wurde die Place Royale in Place de la Liberté umbenannt, 1794 in Place du Peuple und später unter Napoléon in Place Impériale, um in der Restauration wiederum zu ihrem alten Namen Place Royale zurückzukehren.

Die Pariser Straßennamen - Ein revolutionärer Spielplatz

Wenden wir uns nun den konkreten Änderungen in den Pariser Straßennamen zu. Schon im Juni 1790 wurde in der Zeitung „Moniteur“, dem Sprachrohr der Revolutionäre, ein Aufruf publiziert, Pariser Straßen mit den Namen großer Männer zu schmücken, um die Stadtbürger auf den Pfad der Tugend zu lenken. Straßennamen sollten sozusagen als Literatur der Analphabeten verwendet werden.

Die Municipalité de Paris benannte auf Betreiben des Marquis de Villette Anfang Mai 1791 die rue Plâtrière in rue Jean-Jacques Rousseau und den Quai des Théatins in Quai Voltaire um. Oft brachten Revolutionäre jedoch nicht die Geduld auf, darauf zu warten bis die Stadtverwaltung tätig wurde, sondern nahmen die Aufgabe selbst in die Hand. Bereits im April 1791 hatte Villette eigenmächtig kurz nach dem Tod Mirabeaus das Straßenschild der rue Chaussée d’Antin durch ein Schild mit der Aufschrift „rue Mirabeau“ ersetzt, dessen Sterbehaus in dieser Straße lag. Damit stellte er die Stadtverwaltung vor vollendete Tatsachen.
Dieses Vorgehen war symbolisch für die Revolutionszeit: Einzelne oder kleinere Gruppen mit starkem politischem Sendungsbewusstsein setzten öffentlichkeitswirksame Aktionen, mit denen die Stadtverwaltung und später der Konvent beeinflusst werden sollten. Da diese Gruppen jedoch durchaus unterschiedliche Interessen unter dem Dach der Revolution verfolgten, waren dies Aktionen nur selten koordiniert, und das Chaos im Pariser Straßensystem blieb nicht aus.

Bisher beschränkten sich die Handlungen auf einzelne Straßen und konkrete Anlassfälle, die meist mit dem jeweiligen Ort in direkter Verbindung standen. So wurde etwa der eben erwähnte Quai Voltaire anlässlich des Todes Voltaires an jenem Ort entsprechend umbenannt.
Doch schon bald überschlugen sich Revolutionäre darin, sich mit immer größeren Vorhaben zu übertrumpfen. Philippe Antoine Grouvelle drängte im Herbst 1792 erstmals darauf, sämtliche Königs- und Heiligennamen vollständig aus dem Straßenverzeichnis zu tilgen. In Colletets Straßenverzeichnis von 1785 finden sich alleine 95 Heiligennamen. Als Grund für sein Begehren führte Grouvelle aus, die Namen würden ihm so großen Ekel bereiten und er müsste sich in Gegenwart Fremder furchtbar für sie schämen. In triefend nationalistischem Französisch klingt das so unvergleichlich, dass ich den Absatz nicht verschweigen möchte:
„Les saints ont fait autant de mal que les princes. Je m’ennuie également de les voir partout désigner les avenues de la ville. Si je conduis un étranger, et qu’il me demande le noms des rues, c’est pour moi une insupportable nausée d’avoir toujours à lui nommer quelqu’en des imbéciles ou des hypocrites de la légende.“
Auch der Citoyen Jault sprach von „gotischen Prägemarken der Jahrhunderte der Irrtümer und des Fanatismus“, die es zu zerschlagen gelte, indem man den Straßen statt Heiligennamen republikanische Namen geben sollte.

Der Citoyen Chamouleau brachte 1793 dem Conseil Municipal sein Anliegen vor, alle Straßen aller Gemeinden der ganzen Republik in Begriffe der Tugendhaftigkeit umzubenennen. Da die wenigen vorhandenen Tugenden naturgemäß nicht auch nur ansatzweise für die vorhandene Zahl der Straßen ausreichten, sollten die verbleibenden Straßen die Namen „irgendwelcher“ („…quelques grands hommes…“) großer Menschen erhalten. Damit, so seine Hoffnung, würde das Volk, da es fortan stets die in Straßennamen gekleideten großartigen Sinnbilder der Revolution im Alltag verwenden würde, deren Tugenden und Moral bald selbst in ihrem Herzen tragen.
Ein besonderes Gefühl für publicityträchtige Aktionen entwickelte der Unternehmer Pierre-Francois Palloy. Nur drei Tage nach der Ermordung Marats schickte Palloy zwölf angeblich aus der Bastille stammende Steine, in die er den Schriftzug „rue Marat“ eingravieren hatte lassen, an die Pariser Sektion des Théâtre-Francais mit „dem dringenden Wunsch“ um Umtaufung der rue des Cordeliers in rue Marat.

Die so aus dem Ruder laufende Diskussion führte Anfang 1794 zur Schaffung eines Gremiums mit dem schönen Namen „Rapport au Conseil général de la Commune“, welches die Umbenennungen der Straßennamen koordinieren sollte, ihr Vorsitzender wurde der bereits bekannte Henri Grégoire. Er beschäftigte sich als Erster ernsthaft mit den Problemen der bisherigen Namenspolitik in großen Städten wie auch Paris. Er war zwar ein Kind der Revolution, jedoch ging er dennoch systematisch und mit realistischen Erwartungen an seine Aufgabe heran. Er wusste nicht nur um die Bedeutung der ausgewählten Straßennamen, sondern kannte auch ihre historische Entwicklung. Auch er sah das Problem, dass manche Namen an mehrere Straßen vergeben wurden und andererseits eine Straße verschiedene Namen trug.

Grégoire studierte die Namensysteme altertümlicher Städte wie auch das moderne System im damals noch jungen Philadelphia, in dem die Straßen einfach durchnummeriert wurden. Für ihn kam dies jedoch nicht infrage, er wollte für Paris etwas komplett Neues. Er formulierte zwei Grundregeln für künftige Namensgebungen, die noch bis heute Gültigkeit haben: Die Namen sollten kurz und wenn möglich klangvoll sein und sie sollten dem Passanten eine positive Botschaft vermitteln. Gemäß Grégoire sei es am wichtigsten, dass die Namensgebung, einfach, verständig und systematisch erfolgen würde. Wiederholte Umbenennungen wären dagegen kontraproduktiv.
Schließlich legte er zwei Systeme für Paris vor: Einerseits ein geographisches Namensverzeichnis und andererseits eine Nomenklatur bestehend aus Bezeichnungen aus der Landwirtschaft, des Handels, der Künste und der Berufe – und besonders aller Tugenden der Revolution.

Die Vorschläge Grégoires wurden jedoch nicht befolgt, die Stadtverwaltung verfügte weiterhin weitgehend planlos auf Zuruf von außen neue Straßennamen ohne irgendein System. Als die Situation immer verwirrender wurde, wurde zur Symptombekämpfung im Jahr 1794 der „Almanach indicatif des Rues de Paris suivant leurs nouvelles dénominations“ herausgegeben, anstatt das Problem bei der Wurzel zu packen, obwohl die fertigen Expertisen Grégoires nach wie vor vorlagen.

In der Praxis stieß das radikale Umerziehungsprogramm durch neue Straßennamen all den hehren Wünschen zum Trotz sowieso rasch an seine Grenzen. Die Pariser integrierten einfach die neuen Namen in ihren gewohnten Sprachgebrauch, ohne die traditionellen Bezeichnungen jedoch zu verabschieden. So entstanden auch merkwürdige Konstruktionen: Die vormalige rue Sainte-Anne wurde von den Revolutionären zur rue Helvétius erklärt, die Kutscher von Paris riefen sie jedoch bald als rue Saint-Helvétius aus, was freilich die eigentliche Intention völlig konterkarierte.

Die Tilgung royalistischer Symbole beschränkte sich nicht auf Straßennamen allein, auch die Plünderung der Königsgräber in Saint-Denis ist durchaus als symbolische Ausradierung der Herrscherdynastie zu verstehen. Die Revolutionäre schienen sich überhaupt mit großer Hingabe allem vormals Königlichen zu widmen. Noch im Jahr 1793 taten sich für kreative Revolutionäre neue Ziele auf. Nach einem Aufsehen erregenden Marsch beginnend im Pariser Zentrum verspeisten Sansculotten im Garten des Schlosses von Chantilly die dort in den Teichen schwimmenden Goldfische, die ihnen als Metaphern aristokratischer Verschwendung galten. Die buchstäbliche Verzehrung der Vergangenheit erfuhr auch seinen Niederschlag in der Umbenennung von Früchten und Lebensmitteln, so wurden die poires de bon-chrétien zu den poires de bon républicain. Es drängen sich merkwürdige Parallelen auf, wenn man an die hektische Stilisierung der French Fries zu Freedom Fries in den USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001 denkt.

Auch der deutsche Reisende Johann Friedrich Reichard, der sich in seinen Notizen bereits ausnehmend über seine Orientierungslosigkeit in Paris beklagt, bemerkt abseits des Straßennamenchaos weitere Veränderungen:
„Daß meine jetzige Wohnung mit vielen andern ihresgleichen ‚Maison’ und nicht ‚Hôtel’ heißt, schreibt sich noch von der Schreckenszeit her. Damals mußte alles entfernt werden, was nur einigermaßen an die alte königliche oder aristokratische Zeit erinnerte. Aus allen Schildern mußte denn auch das Wort ‚Hôtel’ ausgestrichen oder ausgeschnitten und dafür ‚Maison’ gesetzt werden. Viele Häuser, die in dem guten Rufe blieben, den sie ehedem schon hatten, haben es nicht der Mühe wer geachtet, das ‚Maison’ wieder in ‚Hôtel’ zu verwandeln. Viele haben es getan, und alle neuerrichteten Häuser der Art nennen sich wieder Hôtels.“

Die konzertierte Sprachnormierung durch die Revolution auf vielen Ebenen führte in der Tat einen gewissen Sprachwandel herbei. Viele Schlagwörter der Revolution fanden Eingang in den allgemeinen Wortschatz. Durch die großteils polemische Verwendung wurde den Begriffen eine neue Sinnqualität eingehaucht, mit der sie ihre soziale Verankerung erfuhren. Prominente Wörter dafür sind Liberté, Patriotisme, Aristocrate, Régénération und natürlich Révolution selbst. Es wurden extra eigene Pamphletwörterbücher herausgegeben, in denen die offizielle vom Regime gewünschte Definition verbreitet wurde.

Ein wesentliches Element, um die revolutionäre Botschaft in Köpfen der Bevölkerung zu verankern, waren Straßennamen, bei denen es sich anbot, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Einerseits konnte ein unbeliebter Name des Ancien Régime aus dem öffentlichen Gedächtnis gestrichen werden, andererseits konnte gleichzeitig eine wohlklingende Bezeichnung an der frei gewordenen Stelle platziert werden. Im Zuge dessen wurden beispielsweise die rue de Condé zur rue de l’Egalité, die rue Louis-Le-Grand zur rue des Piques und die rue du Roi-de-Sicile zur rue des Droits de l’Homme.
Um die Bevölkerung jedoch nicht dazu zu nötigen, quasi einen völlig neuen Stadtplan mit ganz neuen Bezeichnungen zu lernen, bestanden die Umbenennungen mitunter auch nur aus der Ausmerzung politisch unkorrekt gewordener Bestandteile im alten Namen. Aus der vormaligen rue du Roi-Doré wurde so die rue Dorée. Aus der wichtigen Hauptachse „rue Saint Martin“ wurde einfach die „rue Martin“. Da dieser Straßenname im Bewusstsein der Bevölkerung tief verwurzelt war, kam ein komplett neuer Name nicht infrage.

Man kann also keinesfalls von einem generellen Umbruch, einer kompletten Neubenennung aller Pariser Straßen sprechen. Es war vielmehr so, dass zunächst nur alle Straßen mit Heiligennamen „säkularisiert“ wurden.
Manche dieser damals neu geschaffenen Straßennamen haben sich bis heute gehalten: rue Helvétius, rue Cérutti, petite rue Chalier, und auch die rue de Marat und die rue de Jean-Jacques Rousseau.

Der Vorschlag Grégoires, die Namen der französischen Departments als Straßennamen in Paris zu verwenden, wurde hingegen ebenso wenig umgesetzt wie jener, die Pariser Straßen als geographisches Spiegelbild der Republik zu benennen. Lediglich die „rue du Mont Blanc“, „rue de Lille“ und „rue de Thionville“ finden sich neu, die beiden letzteren allerdings als Referenz an die beiden Städte für ihren Engagement für die Sache der Revolution.
Während insgesamt nur verhältnismäßig wenige Straßen umbenannt wurden – während der Revolution nur 53 von etwa 900 Straßen insgesamt – so wurden gleich 12 von 26 Pariser Plätzen umgetauft. Das Motiv liegt darin, dass die Plätze als Ort der Repräsentation, Versammlungsort und Treffpunkte genutzt wurden und somit wesentlich wichtiger waren als die meisten Straßen.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es in den ersten Jahren nach der Revolution zu keinem kompletten Umbruch in der Bezeichnung der Pariser Straßennamen gekommen ist. Im Großen und Ganzen blieb das alte Pariser Namensverzeichnis bestehen, lediglich die auffälligsten Relikte des Ancien Régime wurden im ersten Überschwang der Gefühle rasch getilgt. Die neuen Namen sollten zur Volksbildung beitragen, da sie durch ihre Bezeichnungen die Ideale und Tugenden der Revolution propagierten. Eine koordinierte Aktion scheiterte an den zersplitterten Einzelinteressen und der mangelnden Selbstorganisation der Revolutionäre.

Die Pariser Straßennamen - Ein revolutionärer Masterplan?

Den Revolutionären muss hingegen grundsätzlich der redliche Vorsatz zugestanden werden, das Vorhaben einer koordinierten Umbenennung des Pariser Straßensystems anfänglich sorgfältig geplant zu haben, freilich unter Berücksichtigung revolutionärer Einflussnahme. So entwarf Henri Grégoire als Vorsitzender des Erziehungsausschusses des Nationalkonvents ein umfassendes Programm zur nationalen Erziehung. Der ehemalige Gemeindepfarrer aus einem kleinen Dorf in Lothringen, der aufgrund seiner Herkunft die Kultur der Landbevölkerung kannte, stellte ein umfangreiches Maßnahmenpaket vor.
Die zentralen Punkte bestanden aus einem forcierten Ausbau der Volksschulen, der Förderung der Nationalfeste und der Etablierung neuer Formen der Volksliteratur durch Almanache, Katechismen und Schulbücher, und der Umbenennung von Straßen und Plätzen im Sinne des revolutionären Geistes. Nicht genug der Änderungen wurde auch der gregorianische Kalender durch den Französischen Revolutionskalender ersetzt.

Die Wirkung politischer Schriftliteratur und Presse war in der noch mehrheitlich analphabetischen französischen Gesellschaft begrenzt. Nach einer Erhebung des Nationalkonvents von 1790 waren immerhin 12 Millionen Franzosen, etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung, unfähig, Französisch zu sprechen und nur 3 Millionen Bürger beherrschten die Sprache in Wort und Schrift halbwegs korrekt. Klarerweise hätte daher eine Instrumentalisierung, die sich ausschließlich auf schriftliche Pamphlete und dergleichen gestützt hätte, nur einen geringen Teil der Einwohner erreicht. Aber eine revolutionäre Namenspolitik als System volkserzieherischer Didaktik, die auf mündlicher Verbreitung basierte, sollte auf die Nation als Einheit lenkend einwirken.
Außerdem bestand der Wunsch, alle Debatten und Beschlüsse der Nationalversammlung jedem Bürger zugänglich zu machen, was eine intensive Übersetzungstätigkeit der papiers in lokale Dialekte und Regionalsprachen wie Korsisch, Bretonisch, Katalanisch und Deutsch zur Folge hatte. Aufgrund großer administrativer Schwierigkeiten wurden diese Vorhaben jedoch nur teilweise umgesetzt, die Revolutionäre fanden bald wichtigere Spielplätze. Im Januar 1794 wurde schließlich Französisch in allen Schulen verbindlich vorgeschrieben, im Juli 1794 wurden die Dialekte und Regionalsprachen vom Nationalkonvent verboten, allerdings auch dies nur kaum durchgesetzt.

Die Vermittlung der Ideale der Revolution auch an die analphabetisierten Bevölkerungsschichten sollte durch mündliche und semi-orale Formen der Informationsübermittlung erreicht werden: Einführung von Nationalfesten, Bildgraphiken (im Sinne eines erzählenden Comics), gemeinsames Singen, kostenlose Theateraufführungen, Schaffung eines patriotischen Liederkanons, Vorlesen von Zeitungen und Geschichten und eben die demonstrative Umbenennung von Straßen und Gemeinden. Ab Ende 1792 wurden Kommissare aufs Land geschickt, um öffentliche Lektüren zu organisieren. Viele Schriften jener Zeit – Literatur, Plakate, Zeitungen – waren bereits durch ihren formalsprachlichen Aufbau für Vorlesesituationen konzipiert: Als Merkmale können dafür die Verwendung von Dialogen, eingängiger Sentenzen, kurzer Anekdoten und Sprichwörter sowie die direkte Ansprache der Leser als Zuhörer festgehalten werden.
Auch deutsche Revolutionsreisende berichten von der enorm emotionalen und somit auch politischen Wirkung der öffentlichen Sprache in Verbindung mit geschulter Rhetorik und Gestik, Pathos und Sinnlichkeit, die die Bevölkerung mitreißen sollte. Der Publizist Konrad Engelbert Oelsner hebt besonders die energische Sprachgewalt Mirabeaus, Dantons und Vergniauds heraus, an deren Lippen das Volk mit aller Hingabe gehangen hat.

Von der Bedeutung der Pariser Straßennamen in der Französischen Revolution - Das Erbe des Ancien Régime

Der Streit um die Straßennamen in Paris nahm seinen Anfang in der Französischen Revolution und zog sich durch das gesamte 19. Jhdt. Die Helden der Revolution waren aber die ersten, die den Akt der Straßen(-um-)benennung gezielt und auch in größerem Rahmen für ideologisch-didaktische Zwecke nützten, die im Ancien Régime erst sporadisch aufgekommen waren. Der städtische Raum sollte gezielt mit einem gewünschten Sinn erfüllt werden, spontane Namensgebungen sollten vermieden werden.
Die Straßennamen, von Louis XIV als Mittel königlicher Repräsentation entdeckt, erfuhren schon bald nach Beginn der Revolution ihre erneute Instrumentalisierung; es entbrannte ein wahrer Sturmlauf gegen die alten Herrschaftszeichen.
In den Revolutionsjahren trugen daher viele Straßennamen revolutionäre Schlagworte im Namen, auch zum Gedenken vieler grands hommes wurden mit Straßen nach ihnen benannt. Dazu wurden vorrangig Straßen mit royalistischen oder religiösen Namen entsprechend umbenannt, zum Beispiel die rue Notre-Dame in rue de la Raison, la place de l’Oratoire in place de la Liberté, rue Princesse in rue de la Justice, rue Montmartre in rue Mont Marat, rue de la Chaussée d’Antin in rue Mirabeau, wobei letztere bereits 1792 nach dem Sturz des gleichnamigen Marquis in rue du Mont Blanc umbenannt wurde.

Während die erste Vorgabe einer großflächigen Verbreitung der revolutionären Ideale im Stadtplan als erfüllt angesehen werden darf, ist man mit der zweiten glorios gescheitert; gerade im Überschwang der Gefühle waren spontane, unkoordinierte Namensgebungen ein wiederkehrendes Element. Es mag die Revolutionäre wohl nur wenig trösten, dass auch die Regierungen nach ihnen dieses Problem lange Zeit nicht in den Griff bekommen haben. Zum Ausmaß der Umbenennungen seien einige Zahlen genannt: In Paris kam es zwischen 1790 und 1875 zu mehr als 1200 Änderungen im Straßenverzeichnis. Nach der Französischen Revolution bestand Paris aus 1337 Straßen, Plätzen, Wegen und dergleichen. Auch 50 Jahre später in der Zweiten Republik war der Straßennamenskataster von Paris mit insgesamt 1474 Ortsbezeichnungen nur wenig gewachsen. Man könnte daher sagen, dass im genannten Zeitraum nahezu jede einzelne Straße einen neuen Namen erhielt.

Freilich sah die Realität anders aus. Während manche Viertel weitgehend unbehelligt blieben, erfuhren vor allem repräsentative Straßen und Plätze eine wahre Hochschaubahn in ihren Bezeichnungen. Um die historischen Geschehnisse besser nachvollziehen zu können, wollen wir uns zunächst die Ausgangssituation im Ancien Régime ansehen.

Paris war seit dem Mittelalter deutlich gewachsen, auch so mancher Vorort war von der Stadt geschluckt worden. Neuansiedlungen erfolgten in weitgehend unkoordiniert gebauten Häusern, denen dann erst die entsprechenden Straßen folgten, die sie mit dem nächstgelegenen schon bestehenden Teil von Paris verbanden. So kam es, dass manche Wege Namen erhielten, die bereits an andere Straßen vergeben waren, es war aber genauso möglich, dass eine Straße über längere Zeit gar keinen eigenen Namen bekam. Im Straßenverzeichnis von Francois Colletet von 1722 finden sich für etwa 200 Straßen mehrfache Bezeichnungen, wobei die Namen meistens komplett unterschiedlich voneinander waren. Kurz vor der Revolution im Jahr 1785 trugen alleine 45 Straßen den Namen „rue neuve“.

Vor allem im Zentrum gab es viele enge, dunkle, teils unbenannte, teils doppelt benannte Straßen – ein Reform der Namensgebung war daher dringend nötig, um Handel und Reisenden bessere Orientierung zu verschaffen. Es kursierten oft verschiedene Namen für dieselben Straßen oder Plätze im Volk. Eine erste Innovation war die Einführung von Straßenschildern im Jahr 1728, die von den meisten Bürgern sehr begrüßt wurde. Über diese Schilder werde ich in einem gesonderten Beitrag noch näher informieren. Davon abgesehen begnügte sich das Ancien Régime jedoch damit, sich eigene Andenken durch repräsentative Straßennamen im Stadtbild zu setzen, die im vorigen Beitrag bereits geschildert wurden, eine Totalreform war nicht vorgesehen.
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