24
Aug
2008

Die Pariser Straßennamen - Ein revolutionärer Spielplatz

Wenden wir uns nun den konkreten Änderungen in den Pariser Straßennamen zu. Schon im Juni 1790 wurde in der Zeitung „Moniteur“, dem Sprachrohr der Revolutionäre, ein Aufruf publiziert, Pariser Straßen mit den Namen großer Männer zu schmücken, um die Stadtbürger auf den Pfad der Tugend zu lenken. Straßennamen sollten sozusagen als Literatur der Analphabeten verwendet werden.

Die Municipalité de Paris benannte auf Betreiben des Marquis de Villette Anfang Mai 1791 die rue Plâtrière in rue Jean-Jacques Rousseau und den Quai des Théatins in Quai Voltaire um. Oft brachten Revolutionäre jedoch nicht die Geduld auf, darauf zu warten bis die Stadtverwaltung tätig wurde, sondern nahmen die Aufgabe selbst in die Hand. Bereits im April 1791 hatte Villette eigenmächtig kurz nach dem Tod Mirabeaus das Straßenschild der rue Chaussée d’Antin durch ein Schild mit der Aufschrift „rue Mirabeau“ ersetzt, dessen Sterbehaus in dieser Straße lag. Damit stellte er die Stadtverwaltung vor vollendete Tatsachen.
Dieses Vorgehen war symbolisch für die Revolutionszeit: Einzelne oder kleinere Gruppen mit starkem politischem Sendungsbewusstsein setzten öffentlichkeitswirksame Aktionen, mit denen die Stadtverwaltung und später der Konvent beeinflusst werden sollten. Da diese Gruppen jedoch durchaus unterschiedliche Interessen unter dem Dach der Revolution verfolgten, waren dies Aktionen nur selten koordiniert, und das Chaos im Pariser Straßensystem blieb nicht aus.

Bisher beschränkten sich die Handlungen auf einzelne Straßen und konkrete Anlassfälle, die meist mit dem jeweiligen Ort in direkter Verbindung standen. So wurde etwa der eben erwähnte Quai Voltaire anlässlich des Todes Voltaires an jenem Ort entsprechend umbenannt.
Doch schon bald überschlugen sich Revolutionäre darin, sich mit immer größeren Vorhaben zu übertrumpfen. Philippe Antoine Grouvelle drängte im Herbst 1792 erstmals darauf, sämtliche Königs- und Heiligennamen vollständig aus dem Straßenverzeichnis zu tilgen. In Colletets Straßenverzeichnis von 1785 finden sich alleine 95 Heiligennamen. Als Grund für sein Begehren führte Grouvelle aus, die Namen würden ihm so großen Ekel bereiten und er müsste sich in Gegenwart Fremder furchtbar für sie schämen. In triefend nationalistischem Französisch klingt das so unvergleichlich, dass ich den Absatz nicht verschweigen möchte:
„Les saints ont fait autant de mal que les princes. Je m’ennuie également de les voir partout désigner les avenues de la ville. Si je conduis un étranger, et qu’il me demande le noms des rues, c’est pour moi une insupportable nausée d’avoir toujours à lui nommer quelqu’en des imbéciles ou des hypocrites de la légende.“
Auch der Citoyen Jault sprach von „gotischen Prägemarken der Jahrhunderte der Irrtümer und des Fanatismus“, die es zu zerschlagen gelte, indem man den Straßen statt Heiligennamen republikanische Namen geben sollte.

Der Citoyen Chamouleau brachte 1793 dem Conseil Municipal sein Anliegen vor, alle Straßen aller Gemeinden der ganzen Republik in Begriffe der Tugendhaftigkeit umzubenennen. Da die wenigen vorhandenen Tugenden naturgemäß nicht auch nur ansatzweise für die vorhandene Zahl der Straßen ausreichten, sollten die verbleibenden Straßen die Namen „irgendwelcher“ („…quelques grands hommes…“) großer Menschen erhalten. Damit, so seine Hoffnung, würde das Volk, da es fortan stets die in Straßennamen gekleideten großartigen Sinnbilder der Revolution im Alltag verwenden würde, deren Tugenden und Moral bald selbst in ihrem Herzen tragen.
Ein besonderes Gefühl für publicityträchtige Aktionen entwickelte der Unternehmer Pierre-Francois Palloy. Nur drei Tage nach der Ermordung Marats schickte Palloy zwölf angeblich aus der Bastille stammende Steine, in die er den Schriftzug „rue Marat“ eingravieren hatte lassen, an die Pariser Sektion des Théâtre-Francais mit „dem dringenden Wunsch“ um Umtaufung der rue des Cordeliers in rue Marat.

Die so aus dem Ruder laufende Diskussion führte Anfang 1794 zur Schaffung eines Gremiums mit dem schönen Namen „Rapport au Conseil général de la Commune“, welches die Umbenennungen der Straßennamen koordinieren sollte, ihr Vorsitzender wurde der bereits bekannte Henri Grégoire. Er beschäftigte sich als Erster ernsthaft mit den Problemen der bisherigen Namenspolitik in großen Städten wie auch Paris. Er war zwar ein Kind der Revolution, jedoch ging er dennoch systematisch und mit realistischen Erwartungen an seine Aufgabe heran. Er wusste nicht nur um die Bedeutung der ausgewählten Straßennamen, sondern kannte auch ihre historische Entwicklung. Auch er sah das Problem, dass manche Namen an mehrere Straßen vergeben wurden und andererseits eine Straße verschiedene Namen trug.

Grégoire studierte die Namensysteme altertümlicher Städte wie auch das moderne System im damals noch jungen Philadelphia, in dem die Straßen einfach durchnummeriert wurden. Für ihn kam dies jedoch nicht infrage, er wollte für Paris etwas komplett Neues. Er formulierte zwei Grundregeln für künftige Namensgebungen, die noch bis heute Gültigkeit haben: Die Namen sollten kurz und wenn möglich klangvoll sein und sie sollten dem Passanten eine positive Botschaft vermitteln. Gemäß Grégoire sei es am wichtigsten, dass die Namensgebung, einfach, verständig und systematisch erfolgen würde. Wiederholte Umbenennungen wären dagegen kontraproduktiv.
Schließlich legte er zwei Systeme für Paris vor: Einerseits ein geographisches Namensverzeichnis und andererseits eine Nomenklatur bestehend aus Bezeichnungen aus der Landwirtschaft, des Handels, der Künste und der Berufe – und besonders aller Tugenden der Revolution.

Die Vorschläge Grégoires wurden jedoch nicht befolgt, die Stadtverwaltung verfügte weiterhin weitgehend planlos auf Zuruf von außen neue Straßennamen ohne irgendein System. Als die Situation immer verwirrender wurde, wurde zur Symptombekämpfung im Jahr 1794 der „Almanach indicatif des Rues de Paris suivant leurs nouvelles dénominations“ herausgegeben, anstatt das Problem bei der Wurzel zu packen, obwohl die fertigen Expertisen Grégoires nach wie vor vorlagen.

In der Praxis stieß das radikale Umerziehungsprogramm durch neue Straßennamen all den hehren Wünschen zum Trotz sowieso rasch an seine Grenzen. Die Pariser integrierten einfach die neuen Namen in ihren gewohnten Sprachgebrauch, ohne die traditionellen Bezeichnungen jedoch zu verabschieden. So entstanden auch merkwürdige Konstruktionen: Die vormalige rue Sainte-Anne wurde von den Revolutionären zur rue Helvétius erklärt, die Kutscher von Paris riefen sie jedoch bald als rue Saint-Helvétius aus, was freilich die eigentliche Intention völlig konterkarierte.

Die Tilgung royalistischer Symbole beschränkte sich nicht auf Straßennamen allein, auch die Plünderung der Königsgräber in Saint-Denis ist durchaus als symbolische Ausradierung der Herrscherdynastie zu verstehen. Die Revolutionäre schienen sich überhaupt mit großer Hingabe allem vormals Königlichen zu widmen. Noch im Jahr 1793 taten sich für kreative Revolutionäre neue Ziele auf. Nach einem Aufsehen erregenden Marsch beginnend im Pariser Zentrum verspeisten Sansculotten im Garten des Schlosses von Chantilly die dort in den Teichen schwimmenden Goldfische, die ihnen als Metaphern aristokratischer Verschwendung galten. Die buchstäbliche Verzehrung der Vergangenheit erfuhr auch seinen Niederschlag in der Umbenennung von Früchten und Lebensmitteln, so wurden die poires de bon-chrétien zu den poires de bon républicain. Es drängen sich merkwürdige Parallelen auf, wenn man an die hektische Stilisierung der French Fries zu Freedom Fries in den USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001 denkt.

Auch der deutsche Reisende Johann Friedrich Reichard, der sich in seinen Notizen bereits ausnehmend über seine Orientierungslosigkeit in Paris beklagt, bemerkt abseits des Straßennamenchaos weitere Veränderungen:
„Daß meine jetzige Wohnung mit vielen andern ihresgleichen ‚Maison’ und nicht ‚Hôtel’ heißt, schreibt sich noch von der Schreckenszeit her. Damals mußte alles entfernt werden, was nur einigermaßen an die alte königliche oder aristokratische Zeit erinnerte. Aus allen Schildern mußte denn auch das Wort ‚Hôtel’ ausgestrichen oder ausgeschnitten und dafür ‚Maison’ gesetzt werden. Viele Häuser, die in dem guten Rufe blieben, den sie ehedem schon hatten, haben es nicht der Mühe wer geachtet, das ‚Maison’ wieder in ‚Hôtel’ zu verwandeln. Viele haben es getan, und alle neuerrichteten Häuser der Art nennen sich wieder Hôtels.“

Die konzertierte Sprachnormierung durch die Revolution auf vielen Ebenen führte in der Tat einen gewissen Sprachwandel herbei. Viele Schlagwörter der Revolution fanden Eingang in den allgemeinen Wortschatz. Durch die großteils polemische Verwendung wurde den Begriffen eine neue Sinnqualität eingehaucht, mit der sie ihre soziale Verankerung erfuhren. Prominente Wörter dafür sind Liberté, Patriotisme, Aristocrate, Régénération und natürlich Révolution selbst. Es wurden extra eigene Pamphletwörterbücher herausgegeben, in denen die offizielle vom Regime gewünschte Definition verbreitet wurde.

Ein wesentliches Element, um die revolutionäre Botschaft in Köpfen der Bevölkerung zu verankern, waren Straßennamen, bei denen es sich anbot, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Einerseits konnte ein unbeliebter Name des Ancien Régime aus dem öffentlichen Gedächtnis gestrichen werden, andererseits konnte gleichzeitig eine wohlklingende Bezeichnung an der frei gewordenen Stelle platziert werden. Im Zuge dessen wurden beispielsweise die rue de Condé zur rue de l’Egalité, die rue Louis-Le-Grand zur rue des Piques und die rue du Roi-de-Sicile zur rue des Droits de l’Homme.
Um die Bevölkerung jedoch nicht dazu zu nötigen, quasi einen völlig neuen Stadtplan mit ganz neuen Bezeichnungen zu lernen, bestanden die Umbenennungen mitunter auch nur aus der Ausmerzung politisch unkorrekt gewordener Bestandteile im alten Namen. Aus der vormaligen rue du Roi-Doré wurde so die rue Dorée. Aus der wichtigen Hauptachse „rue Saint Martin“ wurde einfach die „rue Martin“. Da dieser Straßenname im Bewusstsein der Bevölkerung tief verwurzelt war, kam ein komplett neuer Name nicht infrage.

Man kann also keinesfalls von einem generellen Umbruch, einer kompletten Neubenennung aller Pariser Straßen sprechen. Es war vielmehr so, dass zunächst nur alle Straßen mit Heiligennamen „säkularisiert“ wurden.
Manche dieser damals neu geschaffenen Straßennamen haben sich bis heute gehalten: rue Helvétius, rue Cérutti, petite rue Chalier, und auch die rue de Marat und die rue de Jean-Jacques Rousseau.

Der Vorschlag Grégoires, die Namen der französischen Departments als Straßennamen in Paris zu verwenden, wurde hingegen ebenso wenig umgesetzt wie jener, die Pariser Straßen als geographisches Spiegelbild der Republik zu benennen. Lediglich die „rue du Mont Blanc“, „rue de Lille“ und „rue de Thionville“ finden sich neu, die beiden letzteren allerdings als Referenz an die beiden Städte für ihren Engagement für die Sache der Revolution.
Während insgesamt nur verhältnismäßig wenige Straßen umbenannt wurden – während der Revolution nur 53 von etwa 900 Straßen insgesamt – so wurden gleich 12 von 26 Pariser Plätzen umgetauft. Das Motiv liegt darin, dass die Plätze als Ort der Repräsentation, Versammlungsort und Treffpunkte genutzt wurden und somit wesentlich wichtiger waren als die meisten Straßen.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es in den ersten Jahren nach der Revolution zu keinem kompletten Umbruch in der Bezeichnung der Pariser Straßennamen gekommen ist. Im Großen und Ganzen blieb das alte Pariser Namensverzeichnis bestehen, lediglich die auffälligsten Relikte des Ancien Régime wurden im ersten Überschwang der Gefühle rasch getilgt. Die neuen Namen sollten zur Volksbildung beitragen, da sie durch ihre Bezeichnungen die Ideale und Tugenden der Revolution propagierten. Eine koordinierte Aktion scheiterte an den zersplitterten Einzelinteressen und der mangelnden Selbstorganisation der Revolutionäre.
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