24
Aug
2008

Die Revolution vernichtet ihr royalistisches Erbe

Die Motivation der Straßenumbenennungen kann nicht hinreichend verstanden werden, ohne die dafür notwendigen vorausgehenden Begleitumstände zu kennen, die ebenso einen dramatischen Eingriff ins Pariser Alltagsleben darstellten. Als eine der ersten Maßnahmen beschlagnahmte die Revolution die Wohnungen der Emigranten und löschte die Mönchsorden aus, deren Güter verstaatlicht wurden, immerhin insgesamt 4400 Objekte, darunter 9 Abteien, 108 Klöster, 69 Kirchen und 39 Kapellen. Entweder wurden sie aufgeteilt oder aber zerstört, und an ihrer Stelle neue Straßen und Plätze angelegt. Auf diesem Wege entstanden die Place de l’Hôtel-de-Ville, Place de la Bastille, Place du Châtelet und Place du Caroussel. Auch die Rue de Rivoli zwischen der Place de la Concorde und der Place du Caroussel wurde so realisiert, wie auch viele weitere Straßen.

Noch 1789 wurde Paris durch die Generalstände in 60 Distrikte eingeteilt, wobei fast alle Distrikte religiöse Namen erhielten und jeder von ihnen Stammsitz einer Kirche oder einem Äquivalent war. Diese Einteilung war jedoch aufgrund der aufkeimenden Religionsfeindlichkeit nicht zufrieden stellend und wurde daher schon 1790 durch eine Einteilung in 48 Sektionen ersetzt, wobei auch die Namen neu vergeben wurden. Diese waren großteils nüchtern ortsbezogen gewählt, es kamen keine kirchlichen oder royalistischen Namen mehr vor. Manche Sektionen wurden im Fortgang der Revolution erneut umbenannt. So erschien 1793 den Revolutionären die Bezeichnung „Louvre“ doch noch zu sehr an das Ancien Régime zu erinnern und wurde durch ein schlichtes „Museum“ ersetzt. Zur gleichen Zeit wurden aus „Ponceau“ die „Amis de la Patrie“, „Roi-de-Sicile“ zu „Droits de l’Homme“, „Notre-Dame“ zu „Cité“ und „Grange-Batelière“ zu „Mirabeau“.
1795 wiederum wurden aus den 48 Sektionen 48 Quartiers, die in 12 Arrondissements zusammengefasst wurden. 1860 wurde schließlich die heutige Einteilung mit 20 Arrondissements zu je 4 Quartiers festgelegt, die an späterer Stelle noch näher erörtert werden soll.

Noch einige Randnotizen zu den baulichen Neuerungen im Stadtbild: Ab dem Jahr 1797 wurden die oft mit Müll, Kot und ähnlichem verstopften Rinnsteine von der Straßenmitte an den Straßenrand verlegt. Diese Maßnahme, so sehr sie sicherlich von den Parisern begrüßt wurde, beraubte den schadensfrohen Zeitgenossen jedoch um ein ganz besonders Schauspiel, das uns Louis Sébastien Mercier genüsslich schildert: Solange die Gosse in der Mitte der Straße war, kam es vor, dass ein breiter, schmutziger Bach die Straße teilte. Wollte ein Fußgänger die Straßenseite wechseln, so eilte ein für einen Liard hilfsbereiter Mitbürger mit einem mobilen Brückchen herbei, über das der Passant dann nervös auf die andere Straßenhälfte balancierte.
Auch setzten sich langsam Trottoirs für Fußgänger durch, deren Fehlen Mercier bereits angeprangert hatte. Als erste Straße mit Gehsteig war bereits 1779 die rue de l’Odéon geschaffen worden, der 1784 die rue Louvois und 1786 die rue Le Peletier folgten.

Zur Verbesserung der hygienischen Zustände wurde alles Schlachtwesen aus der Stadt heraus in die Abattoirs verlegt. Auch hier vermittelt uns Mercier ein anschauliches Bild aus den katastrophalen mittelalterlichen Verhältnissen noch im ausgehenden Ancien Régime: Er nennt die Rue du Pied-de-Boeuf den „stinkendsten Ort der ganzen Stadt“ mit seinen Schlachtereien. Das Vieh wurde öffentlich geschlachtet, das Blut floss in den Straßen, außerdem bestand stets latente Gefahr von flüchtenden Tieren.
An diesem Ort stand zudem nicht nur das in der Bevölkerung gefürchtete Grand-Châtelet, sondern war auch Stätte eines schmutzigen Marktes mit dunklen Gewölben, außerdem noch der Sammelplatz für alle Leichen aus der Seine und dem Pariser Umland. Das alles wurde ergänzt durch ein Gefängnis, eine Fleischerei und ein Schlachthaus, die am Anfang des Pont-au-Change liegen, auf damals noch Brückenhäuser standen, die Mercier furchtbar hässlich findet. Außerdem entsetzt er sich über dieses Viertel als Zentrum der Prostituierten, welche ebenfalls ausnehmend derb und unansehnlich waren und vor allem von Metzgerburschen frequentiert wurden.

Die kleinen Kirchhöfe um die Gotteshäusern herum, längst überfüllt und zu Brutstätten unzähliger Krankheitserreger geworden, wurden geschlossen und dafür im Jahr 1804 die Totenstadt Père-Lachaise angelegt, benannt nach dem Beichtvater Louis XIV, dessen Landsitz hier gelegen hatte. Mercier unterlässt es auch hier nicht, den pestilenzartigen Gestank der Friedhöfe mitten im Stadtgebiet zu beklagen, da die Leichen nur wenig tief bestattet wurden und durch Erosion oder Überschwemmungen ihre Körper immer wieder freigelegt wurden.
Angesichts dieser Zustände verwundert es übrigens nicht, dass Mercier „Lutetia“, den ersten Namen von Paris, wenig charmant mit „Dreckstadt“ übersetzt, wobei er sich auf das lateinische Wort „lutum“ für Kot oder Lehm bezieht. Diese Herleitung mag zwar emotional verständlich sein, sachlich fundiert ist sie nicht; in der Forschung ist die wahre Herkunft des Namens unbekannt.

Abseits von Paris
Die Ereignisse der Französischen Revolution waren kein Pariser Phänomen und auch nicht auf Paris beschränkt, sondern hinterließen auch in der Provinz ihre Spuren. Während sich manche Städten aber nur wenig von der Pariser Euphorie anstecken ließen und keine radikalen Änderungen vorgenommen wurden, so sind die Auswirkungen in Reims doch eine Erwähnung wert:
Bereits fünf Tage nach dem Sturm auf die Tuilerien in Paris verfügte die Reimser Stadtverwaltung die Zerstörung eines ihrer bedeutendsten Wahrzeichen, ein von Pigalle gefertigtes Standbild Louis XV auf der Place Royale. Ersetzt wurde es durch eine revolutionäre Freiheitsstatue, die eigentlich eine rasch aus einem nahen Kloster herbeigeschaffte Muttergottesfigur war, die eiligst auf revolutionär getrimmt wurde. Anschließend wurde die Place Royale in Place de la Liberté umbenannt, 1794 in Place du Peuple und später unter Napoléon in Place Impériale, um in der Restauration wiederum zu ihrem alten Namen Place Royale zurückzukehren.
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Paris: Historische Semiotik einer Stadt

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